Nein, wir stehen zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht am Abgrund angesichts der Frage nach dem Sinn unseres Daseins, sondern eher in einem übel riechenden Morast. Aus der großen Geste der Verneinung (Schopenhauer, Nietzsche …), die im 19. Jahrhundert existenzielles Erschrecken und intellektuelle Begeisterung zugleich hervorrief, ist im 21. Jahrhundert eine müde wegwerfende Bewegung geworden, die ihren Überdruss in bemüht witzigen Pointen portioniert und quotenträchtig vermarktet. Die modernen Nachfolger der großen pessimistischen Philosophen sind die Spaßmacher von heute, die mit wortwitziger Niedertracht (Niedertracht hier ganz wörtlich gemeint als etwas, das immer nach dem Niedrigsten trachtet) sich über alles und jeden lustig machen, alles und jeden in den Dreck ziehen, denen menschliches Erleben und Erleiden, Wollen und Mühen höchstens eine hämisch-abfällige Bemerkung wert sind und denen selbst das Großartigste und Heiligste gerade noch für einen Beifall heischenden Witz taugt.
Wie will man in einem solchen geistigen Milieu die Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz sinnvoll stellen? Ich meine, dass dies gar nicht so aussichtslos ist, wie es auf dem ersten Blick scheint, denn das, was da an Komik und Satire über unsere Bildschirme flimmert (Komik und Satire waren einmal zu Zeiten, als es gefährlich war, den Mächtigen unangenehme Wahrheiten direkt zu sagen, eine hohe Kunstform, ein mutiges Mittel, solche Wahrheiten in einer gekonnt verfremdeten Verpackung öffentlich zu darzubieten), ist ja meist nicht das, was es sein will und sein sollte, nämlich eine scharf überzeichnete Karikatur unserer gesellschaftlichen und historischen Wirklichkeit, sondern nur ein ins Lächerliche gezogenes Zerrbild nach den Vorgaben einer geschäftstüchtigen Unterhaltungsindustrie.
Doch, es lohnt sich, die Frage nach dem Sinn unseres Daseins zu stellen und die Suche nach einer gültigen Antwort nicht aufzugeben!
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das nach einer Sinndeutung seines Lebens fragen kann und das nach einer Sinndeutung seines Lebens fragen muss. Für kein Tier, auch nicht für den intelligentesten Affen, hat die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens eine Bedeutung. Der Mensch aber kann nicht leben, wenn er nicht eine wenigstens in Ansätzen positive Antwort darauf hat.
Wenn ein Mensch, jung, gesund und schön, dazu reich und mit allem materiellen Wohlstand ausgestattet, sich sagen müsste: „Mein Leben ist gänzlich sinnlos, es gibt niemanden, dem ich etwas bedeute, mein Reden und Handeln wird von niemandem wahrgenommen und mein Bemühen kann nichts bewirken, ob ich lebe oder nicht, hat für niemanden eine Bedeutung“, so wird dieser Mensch auf Dauer nicht weiterleben können und auch nicht wollen (vgl. Viktor Frankl „Das Leiden am sinnlosen Leben“). Viktor Frankl hat sein Denken und sein Verstehen menschlichen Daseins und auch menschlichen Leidens in Jahren der Gefangenschaft als Jude in den Konzentrationslagern der Nazis geschult, die er als einer der Wenigen überlebt hat (siehe sein Buch „…trotzdem Ja zum Leben sagen – Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“). Er wusste, wovon er redete, wenn er von „Leben“, „Leiden“ und „Sinn“ sprach, anders als die armseligen Possenreißer unserer Gegenwart.
Das Streben nach einer Sinndeutung des Lebens, die sich einem bloß materialistischen Nützlichkeitsdenken entgegenstellt, ist so tief im Wesenskern des Menschen verankert, dass es immer nur vorübergehend von anderen Motiven überdeckt werden kann. Wenn nun diese Sinnorientierung des Menschseins keine anderen Inhalte hätte als die Selbsterhaltung des Individuums und die Erhöhung der eigenen Lebenschancen, die Erhaltung der Sippe und Art und die Ansammlung von „Lebens-Mitteln“ (also von Dingen, die das eigene Leben angenehmer, reicher, sicherer machen sollen), dann würde sie nur als Verstärker der biologischen Selbstregulierungsmechanismen funktionieren. Der Mensch wäre dann nichts anderes als das intelligenteste Tier, das sich durch seine Intelligenz entscheidende Vorteile im „Kampf ums Dasein“ sichern kann. Damit wäre aber die wesentliche Herausforderung des Menschseins verfehlt.
Wenn wir das Menschsein auf der Suche nach Sinn etwas genauer betrachten, machen wir eine überraschende Entdeckung: Jede Sinnerfüllung menschlichen Lebens ist auf Beziehung hin ausgerichtet. Sie ist niemals bloß im Materiellen und niemals bloß in der Beschäftigung mit sich selbst zu erreichen. „Wem bedeute ich etwas, welche Bedeutung hat mein Leben für das Wohl und Wehe der Menschen um mich her, und wie ordnet sich mein Leben und Tun dem Weg und dem Ziel des Menschseins zu?“ Das sind die Fragen, um die es da geht. Freilich können solche Fragen vom Streben nach Selbstdarstellung und Selbstüberhöhung, von der Sucht nach Sex und Rausch, von der Gier nach Macht und Moneten zeitweise überdeckt werden. Im Hintergrund bleiben sie aber immer gegenwärtig und wirksam.
Die großen Religionen, Philosophien und Ideologien der Menschheitsgeschichte sind Versuche, die eigene Existenz und das eigene Wollen in den Gesamtzusammenhang einer umfassenden Schau der Welt einzupassen, die dem eigenen Sein und Tun einen übergeordneten Sinn und Wert verleiht (siehe das Thema „Weltreligionen und biblischer Glaube“). Und immer ist dieser Sinn im Letzten das für die Menschen und die Menschheit Gute, ja das letztlich Helfende, das endgültig Erlösende.
Das gilt sogar auch für jene Weltanschauungen, die auf furchtbare Weise gescheitert sind, wie etwa der Nationalismus in Deutschland oder der Kommunismus der Sowjetunion oder Chinas im 20. Jahrhundert. Auch die hatten (jenseits aller Gier nach Selbstüberhöhung und Macht, die da auch immer eine Rolle spielte) nicht vor, einfach nur eine schreckliche und menschenverachtende Diktatur zu schaffen.
Die einen wollten das „Edle, Gute und Schöne“ durch die rassische Veredelung der Menschen erreichen und so die Menschheit zum wahren Glück führen (und dazu mussten eben, um das „gute“ Ziel zu erreichen, die „Bösen“ und „Minderwertigen“ ausgerottet werden).
Die anderen wollten in der „klassenlosen Gesellschaft“ alle Ausbeutung von Menschen durch Menschen beenden und eine Art selbstgestaltetes Paradies errichten – auch das ja ein gutes Ziel – (und dazu mussten eben die „Feinde des Guten“, die „Ausbeuter“ und „Kapitalisten“ zumindest „umerzogen“, schließlich aber doch „unschädlich gemacht“ werden).
Durch beide Utopien mussten Millionen von Menschen unvorstellbare Erniedrigung, Verfolgung, Gewalt und Grausamkeit bis hin zum Tod erleiden. Die Sinnfrage kann (muss nicht, aber kann) den Menschen auch in die tiefsten Abgründe menschlicher Verirrung führen.
Der Mensch ist deshalb so furchtbar ideologieanfällig, weil er von seinem Schöpfer so angelegt ist, dass er nach dem Sinn seines Lebens fragen muss. Die Sinn-Frage entreißt sein „Warum?“ der bloßen Kausalität und sein „Wozu?“ der bloßen Nützlichkeit. Er braucht und sucht eine Schau und Deutung des Daseins, die es ihm erlaubt, das eigene Leben in einen sinnvollen Gesamtzusammenhang seiner ganzen Umwelterfahrungen einzuordnen. Er verlangt nach einem sinnhaften Selbst- und Weltbewusstsein, das seine Erfahrungen erklärt und das Unerklärbare deutet, das seine Ängste mitträgt und das ihm zuspricht: „Du bist wichtig und wertvoll, gebraucht und geliebt … trotz allem, was augenscheinlich dagegen sprechen mag.“
Allerdings: Wenn Menschen solche Sinn-erzeugenden „Geschichten“ und „Geschichts-Deutungen“ selbst erfinden, sind sie immer in der Gefahr, in der „Egoismus-Falle“ stecken zu bleiben. Es ist ja auch nur allzu naheliegend, eine Ideologie zu entwickeln, in der wir, wir und nur wir die edle „Herrenrasse“ sind, der von Natur aus die Weltherrschaft zusteht, oder eine Ideologie, in der wir, wir und nur wir die Angehörigen derjenigen „Klasse“ sind, die mit historischer Notwendigkeit den Sieg im „Klassenkampf“ erringen und die Weltherrschaft übernehmen wird (siehe das Thema „Die Revolution und ihre Kinder“) oder eine Religion, in der wir, wir und nur wir die Auserwähltem sind, denen von Gott (oder von den Göttern) eine welterlösende und weltbeherrschende Rolle zugedacht ist. Das Spiel mit den kollektiven Egoismen der Völker, der Rassen und Klassen, der Kulturen und Religionen („Wir sind es, die allen anderen überlegen sind, und deshalb müssen wir über die anderen herrschen“) ist schon immer und bis heute für die Machthungrigen dieser Welt der erfolgversprechendste Weg zur Macht.
Die Suche des Menschen nach dem Sinn seines Daseins kann aber nur dann erfolgreich und menschenfreundlich zugleich sein und bleiben, wenn er die „Sinn-Geschichte“ der Schöpfung und des Menschseins eben nicht selbst entwirft, sondern sie vom Schöpfer des Universums, des Lebens und des Menschseins als Geschenk und Verheißung empfängt (siehe den folgenden Beitrag „Die Berufung des Menschseins“).