Gott hat die ganze Schöpfung werden lassen, um im Nichts die Materie, um inmitten der vielgestaltigen materiellen Welt das Leben und mitten in der millionenfachen Fülle des Lebens das Menschsein zu schaffen.
Auch damit ist das Ziel der Schöpfung noch nicht erreicht, aber die Ziel-Richtung ist schon erkennbar. Um dieses Zieles willen hat der Schöpfer dem Menschsein noch eine besondere und einzigartige Berufung gegeben: Er soll etwas „darstellen” und „vor-verwirklichen”, das es in dieser irdisch-materiellen Schöpfung eigentlich gar nicht geben kann, an dem aber die Erfüllung und Vollendung der Schöpfungsabsicht Gottes hängt. Und dieses Ziel erreicht der Mensch nicht schon durch seine biologische Existenz und seine geistig-kulturelle Entfaltung. Auch der körperlich Vollendetste und geistig Gebildetste ist von diesem Ziel noch genauso weit (ja, manchmal noch weiter) entfernt wie der körperlich und geistig Behinderte.
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das etwas „soll“ (siehe das Thema „sein und sollen“ im Bereich „Grundfragen des Lebens“). Jedes andere Lebewesen erfüllt sein Dasein allein schon durch sein Da-Sein im Beziehungsgefüge des Lebens. Es kann seinen Lebenssinn nicht verfehlen. Der Mensch aber hat seinen Lebenssinn als Aufgabe bekommen, die er erfüllen oder verfehlen kann.
Diese Aufgabe wird schon im ersten Kapitel der Bibel genannt (1. Mose 1, 27): Und Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn, männlich und weiblich erschuf er sie (nach der Übersetzung aus dem Thema „Schöpfungsglaube und modernes Weltbild“). Die Aufgabe und Berufung des Menschseins ist es also, etwas sichtbar abzubilden und erfahrbar darzustellen, was für menschliche Augen eigentlich immer unsichtbar bleiben müsste und für menschliche Erfahrungen immer unvorstellbar wäre: Gott selbst, als sein „Eben-Bild“. Wenn man die Menschen anschaut, wie sie miteinander leben und wie sie miteinander umgehen und wie sie einander lieben, dann soll man etwas davon wahrnehmen (in aller menschlichen Unvollkommenheit, aber doch erkennbar): So ist Gott.
a) Das Spiel der Liebe
Aber, wer ist Gott, wozu hat er uns geschaffen und was erwartet er von uns? Die Antworten auf solche Fragen sind von uns aus nicht zugänglich. Wir können mit den Mitteln menschlicher Erkenntnisfähigkeit immer nur so viel von Gott erfassen, und mit den Mitteln menschlicher Sprache nur so viel von Gott aussagen, als er selbst sich uns offenbart.
Und Gott hat sich offenbart: in der Schöpfung und den nachfolgenden Ereignissen, in der Geschichte Israels, im Leben, Reden und Handeln Jesu, in der Geschichte der Christenheit und des Judentums, und in der Welt- und Menschheits-Geschichte bis heute.
Aus dieser Selbstoffenbarung Gottes über Jahrtausende hinweg können wir wahrnehmen, dass seine Existenz wesentlich in einem „In-Beziehung-Sein“ besteht, das wir mit den Mitteln der menschlichen Sprache (freilich völlig unzureichend, aber wir haben keine Alternative) mit dem Begriff „Liebe“ umschreiben. In der Bibel klingt das so (z. B. 1. Joh 4, 7-8): „Ihr Lieben, lasst uns einander liebhaben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe.“ Das also (das, was hier mit dem Begriff „Liebe” umschrieben wird), das ist es, was das Gott-Sein Gottes ausmacht, sie ist sein eigentliches „Wesen”, sein „Geist“, seine „Person“, seine „Substanz”, seine „Identität”. Und das Menschsein (nicht einzelne Menschen, sondern menschliches Miteinander, ja, in der Zielvorstellung die ganze Menschheit als Lebens- und Liebesgemeinschaft) das soll diese Liebe widerspiegeln als sein „Ebenbild“.
Wenn Gott, der die Liebe ist, sich in einem „Ebenbild“ erkennbar vorstellen will, dann geht das nur, wenn er als „Gleichnisbild“ für sich selbst eine Liebesgemeinschaft wählt: Mann und Frau (aber auch jede andere Gemeinschaft, in der das Miteinander und Füreinander der Beteiligten das Bestimmende ihres gemeinsamen Lebens ist).
Hier muss ich einen Einschub machen, um etwas zu klären, was sonst zwangsläufig Widersprüche hervorrufen müsste: In der Bibel ist oft auch von Lieblosigkeit, Gewalt und Mord die Rede. Sie verklärt und beschönigt nichts und sagt: „So sind die Menschen von Natur aus“. Und die besondere Herausforderung des Menschseins besteht ja darin, mitten in diesem „natürlichen“ Menschenleben (dessen Instinkte in den Jahrtausenden der Menschheitserfahrung beim „Kampf ums Dasein“ entstanden sind) eine neue „Menschlichkeit“ zu entwickeln, genauer gesagt, eine „Mit-Menschlichkeit“, die zum erkennbaren „Ebenbild“ der Liebe Gottes werden soll.
Allerdings: Problematisch wird es dort, wo Gott selbst in der Bibel als gewalttätig, machthungrig und rachedurstig dargestellt wird. Das stellt doch ein Verständnis Gottes, der seinem Wesen nach „Liebe“ sein soll, total in Frage. (Z. B. in Psalm 58, 7-8+11: Zerschmettere, Gott, ihre Zähne in ihrem Maul, brich aus das Gebiss der Junglöwen, Herr! (…) Freuen wird sich der Gerechte, wenn er die Rache anschaut; er watet im Blut der Gottlosen.“ Oder in 1. Sam 15, 3: Nun zieh hin (Israel) und schlage Amalek! Und vollstrecke den Bann an ihnen, an allem, was er hat, und verschone ihn nicht, (sondern) töte Mann und Frau, Kind und Säugling, Rind und Schaf, Kamel und Esel“ (beide Texte nach der Elberfelder Übersetzung).
Was ist das für ein Gott, der so redet? Wir müssen genauer hinsehen: Beim ersten Text redet nicht Gott, sondern David, der seine Wut hinausschreit und Gott auffordert, seine Feinde zu vernichten. Aber es wird nirgends berichtet, dass Gott dann wirklich so gehandelt hat.
Beim zweiten Text geht es um die Frage, was eigentlich mit dem „Bann“ gemeint war, ob Gott wirklich die Vernichtung der „Feinde“ verlangte, oder ob vielleicht mit „Bann“ ursprünglich etwas ganz anderes gemeint war. Und: Ob Gott wirklich so geredet hat, wie der Prophet Samuel es ihm hier in den Mund legt, oder ob das nicht schon die Interpretation des Propheten ist, in der dieser seine sehr menschlich-emotionale Sicht zum Ausdruck bringt. (Hier kann das nicht weiter ausgeführt werden, es ist aber ein Thema in Vorbereitung, in dem diese Frage aufgegriffen und eingehender bearbeitet werden soll).
Ich meine: So menschlich-unzureichend unser „Gottesverständnis“ immer ist und bleibt, wir können das in der Bibel überlieferte „Wort Gottes“ nur dann recht verstehen, wenn wir wahrnehmen, dass die Texte der Bibel immer „Gotteswort aus Menschenmund“ sind. Es gibt auch in der Bibel menschliches Missverstehen und allzumenschliche Fehldeutung der Absichten und Handlungsweisen Gottes (auch Propheten sind nicht unfehlbar und unterliegen manchmal ihren menschlichen Antrieben und Emotionen).
Bedeutet das, dass jetzt im 21. Jahrhundert, jeder nach seiner Beliebigkeit Teile der Bibel, die ihm nicht passen, als „Missverständnis“ und „Fehldeutung“ bezeichnen und für nicht-relevant erklären kann? Nein. Jesus, im zweiten Teil der Bibel (im sogenannten „Neuen Testament“), gibt uns ganz eindeutig den Maßstab vor, wie die Bibel (auch im ersten Teil, dem „Alten Testament“) richtig verstanden werden soll und muss. Er tut dies, indem er selbst zwei Sätze aus dem ersten Teil der Bibel zitiert und die zum „Wesenskern“ des ganzen „Wort Gottes“ erklärt und deshalb anwendbar auf Altes und Neues Testament (Mt 22, 35-40): Und einer von ihnen, ein Lehrer des Gesetzes, versuchte ihn und fragte: „Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz? (Hier ist mit diesem Satz gemeint: „Was ist überhaupt das Wichtigste, was in der Bibel steht?“) Jesus aber sprach zu ihm (und er zitiert dabei 2 Texte aus dem ersten Teil der Bibel) : „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt“ Dies ist das höchste und erste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
„Gesetz und Propheten“ ist hier ein Ausdruck für „Die ganze Bibel“. Das bedeutet: Wenn die ganze Bibel alten und neuen Testaments in diese beiden Liebes-Geboten „hängt“, dann kann sie nur richtig gelesen werden, wenn sie aus dem Grundverständnis der Liebe als durchgehende Leitidee im Wort Gottes gelesen wird. Ohne diese „Leitidee“ kann das „Wort Gottes“ nicht richtig verstanden werden (sagt Jesus). Und von daher müssen Fehldeutungen Gottes als „gewalttätig und rachedurstig“ korrigiert werden. (So weit hier die pauschale Aussage. Im Einzelfall müsste das für jeden Text im Detail betrachtet werden. Ende des Einschubs)
Wenn wir nun die Aussage Jesu von der „Leitidee der Liebe“ zwischen Gott und Mensch und zwischen den Menschen untereinander auch bei unserer Frage nach dem Sinn der Schöpfung zu Grunde legen, dann erkennen wir: Es genügt dem Schöpfer nicht, ein gigantisches, aber stummes, lebloses und sinnloses Universum zu schaffen, wie ein riesiges universales Feuerwerk, das aufleuchtet, eine Weile in großartigen Farben und Formen brennt und dann verlischt. Nein, Gott macht es anders, ganz anders. Gott macht das Universum als „Bühne“, als Bühne für ein „Spiel der Liebe“. Und wenn dieses Spiel sich entfaltet, will er, der selbst ganz Liebe ist, dadurch im Geschaffenen gegenwärtig sein. Er will sich in seiner Schöpfung ein Gegenüber erwecken, das sein Ebenbild ist, bewegt von der gleichen Urkraft, die das Universum in Gang setzte. Mitten in der materiellen (und damit vergänglichen) Schöpfung soll durch die Verwirklichung von Liebe unvergängliches göttliches Sein entstehen.
b) Sinn-Erfüllung
Gott ist Einer; nichts ist neben oder über ihm. Aber kann denn so ein „Einziges“ in sich selbst Liebe sein; braucht nicht jede Form von Liebe auch ein Gegenüber? Ja, und das ist auch bei Gott so (siehe das Thema „Juden und Christen“, Beitrag 3 „Das trinitarische Problem“). Die Bibel drückt schon in ihrem ersten Satz das „Einzig-Sein“ Gottes paradoxerweise in einem Plural (Mehrzahl) aus: Bereschit (im Anfang) bara (schuf) Elohim … (Gott). Aber: „Elohim“ ist eine Mehrzahl-Form. Trotzdem wäre hier die Übersetzung „Götter“ falsch, sondern der, den wir „Gott“ nennen, ist in sich selbst schon Gegenüber und Liebesbeziehung, und zwar von einer solchen Dichte und Geschlossenheit, wie wir Menschen uns das gar nicht denken können.
In dieser Beziehungs-Existenz Gottes entstand schon vor aller materiellen Schöpfung ein Kraftfeld der Liebe von unvorstellbarer Intensität und Spannung (siehe Beitrag 1 „Im Anfang schuf Gott?“). Eine allerwinzigste Ahnung von dieser Spannungsintensität können wir nachempfinden, wenn uns eine tiefe Sehnsucht nach einem innigst geliebten Menschen umtreibt. Es war diese „Sehnsucht“ (auch dies ein allzu menschlicher Begriff), diese „Sehnsucht“ Gottes, der in sich selbst ganz Liebe ist, die den Impuls hervorbrachte, dass etwas sei, das seiner Liebe entspricht und antwortet. So gewaltig war dieser Impuls, dass er zur Initialzündung der Schöpfung wurde und die ganze unvorstellbare Weite und Vielfalt des Universums hervorbrachte.
Darin erfüllen sich Sein und Sollen und Sinn des Menschseins, dass im Menschen (genauer: in seiner Beziehung zu Gott und den Mitmenschen) das Göttliche zum Vollzug kommt (die Liebe, die um des Geliebten willen lebt, redet und handelt).
Dazu ist der Mensch geschaffen (und die ganze übrige Schöpfung, die nötig ist, damit der Mensch existieren kann): Mitten in dieser Schöpfung soll nun das Eigentliche und Entscheidende geschehen. In den Jahrmilliarden des Schöpfungsvorgangs, der in einen Wieder-Einbringungs-Vorgang mündet, will Gott in diesem Universum etwas werden lassen, das Raum und Zeit, Energie und Materie übersteigt und überdauert, weil es in die ewige Einheit und Ganzheit seiner Liebe eingefügt werden kann: Ein „Sinn-leeres“ Universum soll erfüllt werden mit Sinn; eine „Gott-leere“ Erde soll erfüllt werden mit dem „Wesen“ Gottes, der die Liebe ist, eine „von sich aus“ Liebe-leere Natur soll ein Lebewesen hervorbringen, das Gott lieben kann „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und seinen Nächsten lieben wie sich selbst“.
Das ist die „Erfüllung“ der Menschheitsberufung. Das Eigentliche der Schöpfung ist nicht das Universum selbst, sondern das Universum soll die „Bühne“ sein, auf der ein „Spiel“ stattfinden kann, um dessen willen der Schöpfer diese Schöpfung in Gang gesetzt hat.
Darin besteht die Berufung des Menschseins, dass ein Ich da ist, das sich seiner selbst als Individuum bewusst ist, und das sich bewusst an ein Du hingibt. Das Göttliche im Menschen ist bewusstes Ich-Sein in Liebe zum Du.