Bereich: Grundfragen des Lebens

Thema: Die Frage nach dem Sinn

Beitrag 4: Anstoß und Entfaltung des Menschseins (Bodo Fiebig21. Oktober 2022)

Der doppelte Informationspool der Menschheit

Die Ausbreitung des Lebens über die Erde hat in langen Zeiträumen eine Biosphäre entstehen lassen, die von Pol zu Pol reicht und von den Tiefen der Ozeane bis zu den Gipfeln der Berge, und in der die ganze Vielfalt des Lebens, vom Einzeller bis zu den höheren Pflanzen und Tieren, zueinander in Beziehung steht und voneinander abhängig ist.

In dieser belebten Welt hat der Wille des Schöpfers ein Wesen gebildet, das im Vergleich zu allen Tieren mit überragenden geistigen Möglichkeiten ausgestattet ist: den Menschen (siehe das Thema „Wer bin ich?“). Nicht durch irgendwelche körperlichen Vorzüge und Fähigkeiten hat sich das Säugetier Homo Sapiens über den ganzen Globus hinweg ausbreiten und durchsetzen können, sondern durch seine geistige Überlegenheit, mit der er das Feuer nutzbar machte, mit der er Werkzeuge schuf, die die Gestaltungsfähigkeit seiner Hände erweiterten, mit der er das Rad erfand, das seine Bewegungsmöglichkeiten vervielfältigte, mit der er Maschinen entwickelte, die seine Muskelkraft ins Übermenschliche steigerten, mit der er schließlich sogar „Denkapparate“ (Computer) baut, die selbst seine geistigen Fähigkeiten, seine Denk- und Gedächtnisleistungen, noch ins Unermessliche vervielfältigen können.

Aber nicht nur in der Gestaltung seiner materiellen Umwelt ist der Mensch auf Grund seiner geistigen Fähigkeiten allen anderen Lebewesen überlegen, sondern auch in der Gestaltung seiner sozialen Umwelt: Von der Rudelordnung der ersten Menschen-Gruppen bis hin zur Ausformung differenzierter Sozialgebilde in modernen Formen von Staat und Gesellschaft, die nicht von „angeborenen“ Instinkten gesteuert werden, sondern durch sehr variable, vielfältige und bewusste Kommunikation.

Der Mensch ist biologisch gesehen ein Säugetier mit allen genetischen Ausstattungen eines Säugetieres und trotzdem ist er eine echte Neuschöpfung inmitten der vorhandenen Biosphäre der Erde, nicht nur eine Weiterentwicklung der in den Tieren schon angelegten Möglichkeiten. Dabei ist auf den ersten Blick gar nicht erkennbar, worin denn das grundsätzlich Neue eigentlich besteht, denn dieses Neue liegt auf einer ganz anderen Ebene als alles, was die Entwicklung des Lebens bis dahin hervorgebracht hatte.

Das entscheidend Neue am Menschsein ist nicht einfach nur eine höhere Intelligenz, die wäre ja nur graduell höher, aber nicht etwas prinzipiell Neues. Das wirklich Neue liegt zunächst einmal in seiner Teilhabe an einer neuen Art von „kollektivem Informationspool”, der zu dem genetischen Informationspool der biologischen Art hinzukommt.

In der Tierwelt sind die Eigenschaften und Fähigkeiten einer Tierart im Genpool dieser Art weitgehend festgelegt. Die Möglichkeiten zum Erwerb individueller Erfahrungen und zur Entwicklung individueller Problembewältigungsstrategien, die über das genetisch festgelegte Instinktverhalten hinausgehen, sind vergleichsweise gering (obwohl manche Tiere z. B. den Gebrauch von Werkzeugen erlernen können). Noch geringer sind die Möglichkeiten, erworbene individuelle Erfahrungen und Fähigkeiten einander mitzuteilen und erst recht diese so zu „konservieren“ (z. B. in Schriftform), dass sie anderen Individuen der eigenen Art (und auch späteren Generationen) zugänglich und nutzbar gemacht werden könnten. Die Ansätze zur Entwicklung einer „Sprache“ bei Tieren beinhalten im allgemeinen nur den Ausdruck einer appellativen Mitteilung (Lockruf, Warnung, Aufforderung …).

Der Mensch dagegen hat mit der Sprache ein Kommunikationssystem entwickelt, das die Möglichkeit bietet, eigene Erfahrungen, Problemlösungen und Ideen zu benennen, sie zu bewerten und zu verknüpfen und sie als gedeutete, von den realen Dingen schon weitgehend abstrahierte „innere Wirklichkeit“ anderen mitzuteilen, sie im Austausch abzugleichen und dadurch auf allgemein gültige Stimmigkeit hin zu überprüfen. Mit der Entwicklung und schriftlicher Fixierung von Sprache hat er die Möglichkeit geschaffen, gedankliche Inhalte (Erfahrungen, Informationen, Interpretationen, Appelle …) zu vervielfältigen, über weite Strecken zu transportieren und für spätere Generationen aufzubewahren.

Indem der Mensch die Dinge und ihre Eigenschaften und Beziehungen benennt, ordnet er sie ein in sein Vorstellungs- und Denksystem. Es entsteht in ihm ein subjektives Bild von der Welt um ihn. Aber erst wenn nun mehrere Menschen über ihr subjektives Weltbild miteinander kommunizieren, indem sie Erfahrungen austauschen und ihre subjektive Interpretation ähnlicher Erfahrungen miteinander vergleichen, entsteht ein Weltbild von zunehmend über-subjektiver Objektivität. Zumindest bekommt dieses „Weltbild“ eine allgemeine Stimmigkeit innerhalb einer begrenzten Gruppe von Menschen, die in intensivem Erfahrungsaustausch miteinander stehen. Es entsteht eine „Kultur“ (oder Subkultur) mit eigener „Welt-Anschauung“, die für die Angehörigen einer bestimmten Gruppe von Menschen überzeugend und stimmig ist.

Durch die Entwicklung von Verkehrs- und Kommunikationsmitteln, mit denen Menschen und Informationen Länder und Kontinente überqueren, entsteht nach und nach (und auch das anfanghaft schon seit Jahrtausenden) eine „Weltkultur“ mit einem globalen Weltbild. Der Aufbau weltweiter elektronischer Kommunikationssysteme und die zunehmende Nutzung des Internet beschleunigen diesen Vorgang.

Dazu kommt, dass die Kommunikationsmöglichkeiten des Menschen nicht nur „horizontal“ auf die Breite der gegenwärtigen Menschheitsfamilie ausgerichtet sind, sondern sie reichen auch „vertikal“ in die Tiefen der Geschichte. Der Mensch kann mit Hilfe „konservierter“ (z. B. geschriebener) Sprache sogar mit anderen Menschen geistig in Kontakt treten, die schon längst nicht mehr am Leben sind und auf diese Weise Erfahrungen und Ideen von Angehörigen früherer Generation für sich nutzbar machen. Die Bibliotheken der Universitäten aller Kontinente und Kulturen, ob mit „Papierspeichern“ (Büchern) oder digitalen Speicher-Medien ausgestattet, enthalten einen Teil des unüberschaubar großen „Erfahrungs- und Wissensschatzes der Menschheit“ der in Jahrtausenden gebildet, gesammelt und vermehrt wurde.

Die Menschheit hat im Laufe von Jahrtausenden neben ihrem biologischen Genpool einen riesigen geistigen Erfahrungs- und Wissens-Pool, neben dem genetischen Erbe eine riesige kulturelle „Erbmasse“ aufgebaut, die das allermeiste ihrer geistigen Leistungen überhaupt erst möglich macht, und es ist eben diese ihre Teilhabe an diesem zweiten (geistigen) „Erbe“ (neben dem genetischen), welche die Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet . Auch die moderne Computertechnologie z. B. wäre nicht möglich ohne die ganze Geistesgeschichte des Menschseins, die bis zu den Denkweisen und Kommunikationsformen frühester Menschengruppen reicht und zu deren Versuchen, ihre Umwelt zu verstehen und zu gestalten.

Gemeint ist dabei nicht eine ungeheure Anhäufung unverbundener Wissensinhalte, sondern ein in vielen Facetten schillerndes, in allen Sprachen der Welt klingendes „Gesamtkunstwerk“ menschlichen Geistes, in welchem sich alltägliches Erleben und Verstehen mit künstlerischem Ausdruck, philosophischer Gedanken-Architektur, wissenschaftlichem Erforschen und Beschreiben, emotionaler Zu- und Abwendung, religiöser Sehnsucht und Deutung … von Milliarden verschiedener Individuen in den Jahrtausenden ihrer Geschichte durch vielfältige Kommunikation und gegenseitige Beeinflussung zu einem weltumspannenden Ganzen verbinden, das sich ständig verändert und erneuert, als wäre es ein lebendiges Wesen. (Das „Internet“ kann dabei verstanden werden als ein verkleinertes, auf Inhalte, die auf elektronischem Wege kommunizierbar sind, eingeengtes und reduziertes Abbild dieses geistigen „Gesamtkunstwerks“.) Es entsteht, verdichtet und verknüpft sich eine die Erde umfassende Weltsphäre des Geistes, die an die Biosphäre der Erde gebunden ist und an das wortmächtige und sprachhandelnde Wesen „Mensch“.

Aber: Wenn wir auch nur einen vorsichtigen Blick auf die Jahrtausende werfen, so wird (bei aller Einschränkung unseres Wissens und Verstehens bezüglich der historischen Abläufe) deutlich, dass der sachliche Erfahrungs- und Wissensschatz der Menschheit nur einer der Träger und Treiber der Welt- und Menschheits-Geschichte war und ist.

Dazu kommen (mit ungeheurer Wirkungskraft) die persönlichen und kollektiven Triebe, Gefühle, Wünsche, Hoffnungen, Egoismen, Aggressionen, Gewohnheiten, Regeln, Gesetze … welche im Einzelnen (ebenso wie zwischen Gemeinschaften, Völkern und Kulturen) die Beziehungen der Menschen zu ihren Mitmenschen bestimmen (davon kann hier nicht weiter die Rede sein – siehe die Themen „Friede auf Erden?“ und „Wer bin ich?“ und „Die Ethik des Atheismus“).

Ein dritter „Träger und Treiber“ der Menschheitsentwicklung ist Die Frage nach dem Sinn“ (das wird in dem späteren Beitrag „Anstoß und Entfaltung der Sinnerfüllung des Menschseins“ noch ausführlicher dargestellt werden). So sehr man heute diese Frage abwehrt mit dem Argument, dass doch alles „zufällig“, also ohne Sinn entstanden sei, so muss man doch zumindest anerkennen, dass diese Frage in den Religionen, Weltanschauungen und Ideologien konkret und wirkmächtig geworden ist und in der Entwicklungsgeschichte des Menschseins eine mit-entscheidende (positiv aufbauende und negativ zerstörende) Rolle gespielt hat.

Im folgenden Beitrag „Anstoß und Entfaltung des Menschseins 2“ werden zunächst „geistige Entwicklungen“ angesprochen. Danach, im Beitrag „Anstoß und Entfaltung des Menschseins 3“ „spirituelle Entwicklungen“.

Alle Beiträge zum Thema "Die Frage nach dem Sinn"


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert