Bereich: Grundfragen des Lebens

Thema: Die Frage nach dem Sinn

Beitrag 5: Anstoß und Entfaltung des Menschseins 2 (Bodo Fiebig10. Oktober 2017)

Geistige Entwicklungen

Der Mensch ist von Natur aus unzureichend ausgestattet: Er ist zwar „Allrounder“, der aufrecht gehen, mit Händen greifen, leidlich gut sehen, hören, riechen, fühlen, schmecken kann, aber nichts wirklich gut im Vergleich mit verschiedenen Tierarten. Er ist nicht so stark wie ein Büffel, nicht so schnell wie eine Gazelle, kann nicht so gut sehen wie ein Adler, nicht so gut riechen wie ein Wolf … Dazu ist er ohne Hörner und Hauer, ohne Klauen und Krallen, ohne warmes Fell oder Federn, von Natur aus nackt und wehrlos (der Philosoph und Anthropologe Arnold Gehlen nannte den Menschen ein „Mängelwesen“). Trotzdem gelang es ihm, sich in verschiedensten Umgebungen mit verschiedensten landschaftlichen, klimatischen,  biologischen  … Umweltbedingungen am Leben zu erhalten, ja, nach und nach sich immer besser gegenüber allen anderen Lebewesen durchzusetzen. Das konnte nur dadurch gelingen, dass wesentliche Veränderungen in der Menschheitsgeschichte nicht durch biologische Entwicklungen vorangetrieben wurden (biologische Entwicklungen können immer nur in sehr großen Zeiträumen Veränderungen hervorbringen) sondern durch geistige Entwicklungen, die wesentlich schneller auf veränderte Bedingungen reagieren können.

Geistige Entwicklung gibt es auch bei Tieren. So können sich viele Tierarten mit Lauten und Gesten verständigen, manche (z. B. Affen) können auch problemlösende Strategien beim Gebrauch von Werkzeugen entwickeln usw. Eine Entwicklung die wirklich über alles bisherige hinausgeht und nur dem Menschen möglich ist, kann man unter dem Begriff „spirituelle Entwicklung“ zusammenfassen. Was damit gemeint sein kann, wird sich in der weiteren Bearbeitung des Themas (siehe Beitrag 6) ergeben.

Die Entwicklung der Menschheit in den vergangenen etwa 70 Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte (speziell der Geschichte des „Homo Sapiens“) wird meist in verschiedene aufeinanderfolgende Phasen eingeteilt, die jeweils mit einer „Revolution“ begannen (zumindest dem Namen nach, z. B. die „landwirtschaftliche Revolution“ oder die „industrielle Revolution“ …). Diesen Begriff muss man aus heutiger Sicht aber als fragwürdig ansehen. „Revolutionen“ beenden eine historische Phase, indem sie diese überwinden und durch eine neue ersetzen (so jedenfalls im Selbstverständnis der „Revolutionäre“). Das ist aber bei den großen Phasen der Menschheitsentwicklung nicht der Fall. Vielmehr geht es da jeweils um die Erweiterung und Steigerung von menschlichen Entwicklungs-Potenzialen, die durch eine neue, so noch nie dagewesene Möglichkeit der Gestaltung des Lebens und des Zusammenlebens von Menschen entstehen, Gestaltungsmöglichkeiten, die zu den bisherigen dazukommen (und nicht diese „überwinden“ oder ersetzen).

Ich rede deshalb hier von „Entwicklungen“ statt von „Revolutionen“. Solche Entwicklungen gingen freilich nicht gleichmäßig voran, sondern vollzogen sich in „Sprüngen“ oder „Schüben“, bei denen manchmal große Veränderungen in relativ kurzer Zeit geschahen, während sich dazwischen in langen Zwischen-Zeiten wenig veränderte. Ich nenne hier 10 solche „Entwicklungs-Schübe“, die zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen sozialen Milieus (manchmal parallel, manchmal zeitlich versetzt) auf verschiedenen Erdteilen stattgefunden haben.

5.1 Entwicklung von Formen gemeinschaftlichen Lebens

Eine einzellige Bakterie braucht kein Gemeinschaftsleben. Sie ernährt sich von dem, was da ist, vermehrt sich durch Teilung, wenn die Voraussetzungen gegeben sind und stirbt, wenn ihre Lebenspotenziale verbraucht sind. Sie weiß nichts von ihrer Nachbar-Bakterie und kann und braucht auch von ihr nichts wissen. Höher entwickelte Lebewesen (Pflanzen und Tiere) dagegen brauchen Formen von Gemeinschaft, um als Einzelne oder als Gattung leben und überleben zu können. Viele Tierarten z. B. bringen Junge zu Welt, die allein noch nicht lebensfähig sind: Ein Ei, das ausgebrütet werden muss, ein Säugling, der die Mutter-Milch braucht … Das aber ist oft nur möglich, wenn mehrere erwachsene Tiere (meist das Mutter- und Vater-Tier) zusammenarbeiten und sich gemeinsam um den Nachwuchs bemühen. Bei sehr vielen höher entwickelten Tierarten ist die „Familie“, bestehend aus mehreren Generationen der gleichen Abstammungslinie, die „soziale“ Grundlage der Existenz.

Bei vielen Tierarten bilden darüber hinaus mehrere „Familien“ dann auch noch größere Gruppen, in denen sie leichter leben und überleben können (eine Gnu-Herde in der Steppe Afrikas, ein Vogelschwarm auf dem Weg ins Winterquartier, ein Wolfsrudel bei der Jagd, ein Herings-Schwarm in der Nordsee …). Dies alles sind evolutionär entstandene Lebensgemeinschaften, mit Verhaltensweisen, die weitgehend in der jeweiligen Instinkt-Ausstattung der Gattung festgelegt sind. Manche evolutionär bedingten Gemeinschaftsformen überschreiten sogar die Grenzen ihrer eigenen Art (Blütenpflanzen brauchen z. B. bestimmte Insekten als Bestäuber, damit ihre Lebensform erhalten bleiben kann …). Die Biosphäre der Erde ist organisiert in integrierten Biotopen mit vielfältigen Lebensgemeinschaften und Symbiosen.

Menschen haben schon in sehr frühen Entwicklungsphasen ihre evolutionär entstandenen Gemeinschaftsformen überschritten, z. B. durch Bildung von Familienclans, von Lebens- und Jagdgemeinschaften, Stämmen, Völkern …, die nicht mehr durch Instinkte zusammengehalten werden (wie z. B. bei einen Bienenschwarm), sondern durch Kommunikation (siehe dazu auch Punkt 2 „sprachliche Entwicklungen“). Zwischenmenschliche Beziehungen in erweiterten Organisationsformen sind Ergebnisse von (sprachlicher und nichtsprachlicher) Kommunikation, die zwar auf der Grundlage der biologischen Zusammengehörigkeit entsteht und sich entfaltet, diese aber dann weit überschreitet und neue, nicht-evolutionäre Gemeinschaftsformen entwickelt (eine Fußballmannschaft, ein Gesangverein, eine politische Partei, eine Firma, ein Konzern, ein Staat, ein Staatenbündnis bis hin zur globalen Weltgemeinschaft).

Auch schon früheste Gemeinschaften der Gattung „Homo Sapiens“ profitierten bei der Jagd oder beim Sammeln von essbaren Früchten, Pilzen, Blättern, Wurzeln, Schnecken, Krebsen, Heuschrecken … davon, wenn sie beim Jagen und Sammeln zusammenarbeiteten. Dabei brauchten sie bei einer arbeitsteiligen Vorgehensweise, bei der jeder Einzelne eine bestimmte Aufgabe übernehmen musste, Abmachungen und Regeln, an die sich jeder halten musste, damit das Vorhaben gelingen konnte. Das ist bei vielen Tierarten auch so. Ein Wolfsrudel z. B. hat ganz bestimmte Vorgehensweisen entwickelt und eingeübt, damit es ein größeres Beutetier (vielleicht ein Wisent) erlegen konnte.

Menschen konnten aber, da ihre Jagd-Strategien nicht in Form von „Instinkten“ relativ festgelegt waren, sehr viel variantenreicher und dynamischer auf verschiedene Herausforderungen und Situationen reagieren. Sie konnten das „richtige“ Verhalten innerhalb ihrer Gemeinschaft immer wieder neu den äußeren Gegebenheiten anpassen. Wenn sich dann die jeweils Beteiligten an ihre vereinbarten Verhaltensweisen hielten, wurde das von der Gemeinschaft als „richtig“ anerkannt und belohnt (z. B. beim Verteilen des Beute-Anteils nach der Jagd). Wenn sich einer der Beteiligten sich nicht daran hielt, galt das als „falsch“ und wurde bestraft. Aus solchen Entwicklungen stammen die (zunächst ungeschriebenen, später auch geschriebenen) Regeln und Gesetze der Gruppen, Völker, Kulturen und Staaten.

5.2 Sprachliche Entwicklungen

Die Entwicklung von Sprachen war der alles entscheidende Vorgang, der die Angehörigen der Gattung „Mensch“ (speziell des Homo Sapiens) aus der Familie der „Hominiden“ (und allgemeiner der Säugetiere) hervorhob. Ohne sie wären die weiterführenden „Denkleistungen“ bis hin zu Wissenschaft und Philosophie nicht möglich gewesen. Voraussetzung dafür waren aber die bei Punkt 1 (siehe oben) genannten Sozialbeziehungen, durch die ein zwar variabler, im Kern aber stabiler Kommunikations-Raum gebildet wurde, in dem eine Sprachentwicklung möglich werden konnte.

Denken und Sprechen entwickeln sich immer gleichzeitig und verstärken sich gegenseitig: Neue Möglichkeiten des Denkens fördern neue Möglichkeiten des Sprechens und neue Möglichkeiten des Sprechens fördern neue Möglichkeiten des Denkens. Das „sprechende Denken“ und das „denkende Sprechen“ sind, ineinandergreifend, die stärksten Kräfte der geistigen Entwicklung des Menschseins – bis heute. Im Bereich 3 „Grundlagen der Gesellschaft“, dort im Thema 3-7 „Der Sturm der Erkenntnis“, und dort im Beitrag 3-7-4 „Denken und Sprechen“ ist das ausführlicher dargestellt.

5.3 Technische Entwicklungen

Es begann mit der Nutzung natürlicher „Werkzeuge“ aus Stein, Holz, Knochen … (solche technische Nutzung von natürlich vorhandenen Gegenständen ist auch für manche Tierarten möglich). Ein zweiter Schritt war die Entwicklung „künstlicher“ Werkzeuge (z. B. Faustkeil, Speer, Pfeil und Bogen, Pflug …). Ein dritter Schritt war die Entwicklung von „Verfahrenstechniken“ (z. B. beim Brennen von Ton zu Keramik, beim Gerben von Tierhaut zu Leder oder bei der Verhüttung von Eisenerzen zu Roheisen und dessen Weiterverarbeitung zu Stahl …). Solche immer weiter aufeinander aufbauenden technischen Entwicklungen sind (weil sie uns überall wahrnehmbar begegnen) die eindrucksvollsten Leistungen menschlichen Geistes (z. B. beim Wohnungsbau: von der Erdhöhle zum Wolkenkratzer, bei der Fortbewegung: vom Reittier zur Mondrakete …) Aber auch die modernsten von Computern gesteuerten und von Robotern ausgeführten Produktionstechniken wären nicht möglich, ohne die ersten Schritte technischer Vorgehensweisen, wie z. B. bei der Herstellung eines Faustkeils aus Feuerstein.

5.4 Energetische Entwicklungen

In den Jahrtausenden der frühen Menschheits-Geschichte standen den Menschen nur die eigenen Körper-Kräfte zur Verfügung, wenn sie etwas erreichen, gestalten oder verändern wollten. Erst nach und nach gelang es, „fremde“ Energien zu nutzen und für sich „arbeiten“ zu lassen. Solche frühen „Fremd-Energien“ waren z. B. das Feuer, waren Wasser- und Windkraft und die Arbeitskraft domestizierter Tiere. Erst mit Beginn der sogenannten „industriellen Revolution“ (siehe unten) kamen Dampfmaschine, Verbrennungsmotor, Elektrizität und Atomkraft … hinzu. Energie-Träger (z. B. Wasser und Windkraft, Holz, Öl, Gas, Uran …) Energie-Anlagen (z. B. Windmühle, Dampfmaschine, Motor, Atomkraftwerk …) Energie-Transport (z. B. in Öl-Tank-Schiffen, in Strom- oder Gasleitungen …) und Energie-Nutzung (z. B. zur Produktion von Waren mit Hilfe von Maschinen, oder zur Mobilität in Fahrzeugen, Schiffen, Flugzeugen …) wurden zur Voraussetzung und zum Antrieb für die Entwicklung von Welt-Wirtschaft und interkontinentalem Verkehr.

5.5 Landwirtschaftliche Entwicklungen

In verschiedenen Kulturen seit etwa 10 000 Jahren und auf verschiedenen Kontinenten gab es unabhängig voreinander (später auch im Austausch von Erfahrungen) diese Entwicklung, welche die Lebensweise von menschlichen Gemeinschaften radikal und dauerhaft veränderte (hier beispielhaft angedeutet):

Bei den jahreszeitlichen Wanderungen (die den Wanderungen der bevorzugten Beute-Tiere oder dem Wachstum bzw. der Reife bestimmter Pflanzen und deren Früchte folgten) machte ein Familien-Clan von Jägern und Sammlern wieder Rast an einer Stelle, wo er im Jahr zuvor auch schon einige Zeit gelebt hatte. Von dort aus waren die Erwachsenen und älteren Kinder der Gruppe damals auf die Jagd gegangen und sie hatten von dort aus Samen und Früchte verschiedener Pflanzen gesammelt. Es war eine schwierige Zeit gewesen, wo das Leben und Überleben der Gruppe immer wieder durch Zeiten von Mangel und Hunger bedroht war.

Nun machten sie eine überraschende Entdeckung: In der Nähe der damaligen Unterkunft (einige selbst gegrabene Erdhöhlen mit  Abdeckungen aus Ästen und Zweigen, in denen sie etwa eine Voll-Mond-Zeit gewohnt hatten) fanden sie jene Pflanzen, deren Samen sie damals gegessen hatten und die man sonst weiträumig suchen musste, in großer Zahl vor. Außerdem konnten sie die Reste der früheren Wohn-Höhlen wieder nutzen. Das freute sie sehr und sie beschlossen, auch in der nächsten Warm-Zeit (Sommer) wieder zu diesem Platz zu kommen. Und tatsächlich: Auch diesmal fanden sie dort diese Pflanzen (vor allem Gräser mit essbaren Samenkörnern), und es waren sogar noch mehr als im Jahr zuvor, vor allem dort, wo sie damals die Körner als Vorrat für die nächsten Tage gelagert hatten. Und sie merkten: Es ist gut, bei den jahreszeitlichen Wanderungen wieder an bestimmte Orte zurückzukommen, wo sie schon einmal gewesen waren. Das machte sie noch nicht zu sesshaften Siedlern, aber doch schon zu einer Art „Halb-Nomaden“, die Jahr für Jahr die gleichen Plätze aufsuchten (sogar dann noch, wenn sie merkten, dass die Jagd-Beute dort nun geringer wurde, weil die Tiere durch die wiederholte Jagd weniger wurden). Aber die größere Fülle an essbaren Pflanzen wog diesen Nachteil auf.

Schließlich kam eine der Sammlerinnen auf die Idee, Samenkörner bestimmter Pflanzen bewusst auf einer geeigneten Fläche auf dem Boden zu verteilen und mit etwas Erde zu bedecken. Und tatsächlich: Auf diesem bewusst angelegten „Feld“ wuchs im nächsten Jahr eine große Menge der Gräser mit ihren Samenkörnern. Das machten sie nun jedes Jahr so: Sie legten bei bestimmten, geeigneten Lagerplätzen kleine Felder an und säten dort Samen aus, dessen Früchte sie im Jahr darauf, wenn sie wieder an diese Stelle kamen, „ernten“ konnten. Allerdings: Sie konnten keine größeren Mengen ihrer Ernte als Vorräte für die kommende Kalt-Zeit (den Winter) mitnehmen. Ihre nomadenhafte Lebensweise ließ nur sehr geringe Vorratshaltung zu, weil sie ja alles (die Fell-Kleidung für den Winter, einige Werkzeuge und Gefäße, die Jagdwaffen, ihre kleinen Kinder als kostbarste „Fracht“ …) von Lagerplatz zu Lagerplatz tragen mussten.

Nach einem ungewöhnlich langen und kalten Winter, in dem einige der Alten und der kleinen Kinder ihrer Gruppe verhungert waren, beschlossen sie, an einem der gewohnten Lagerplätze größere Felder anzulegen, die Wohnhöhlen dort durch stabile Holz-Hütten zu ersetzen, und dort Teile der Ernte so aufzubewahren, dass sie im Winter (zusammen mit dem Fleisch erjagter Tiere) davon leben konnten (und dass von den Samenkörnern auch noch etwas übrig blieb, das sie für das nächste Jahr wieder aussäen konnten).

Die „landwirtschaftliche Entwicklung“ hatte begonnen. Ihre wesentlichen Merkmale waren: Der Bau fester und dauerhafter Wohnstätten in wachsenden Siedlungen, Ackerbau (vor allem mit Pflanzen, deren Samen man über längere Zeit aufbewahren konnte), zunehmende Vorratshaltung, später auch die Haltung von domestizierten Tieren, ergänzt durch die Jagd im größeren Umkreis der Siedlung.

5.6 Kulturelle Entwicklungen

All das, was in den oben beschriebenen Entwicklungen genannt wurde: Sozialbeziehungen, Sprachentwicklung, Technik, Verhaltensregeln, größere Gemeinschaften in bleibenden Siedlungen (oder auch in größeren Höhlen) … war Voraussetzung für die Entstehung von „kulturellen Entwicklungen“. „Kultur“ (im engeren Sinn) braucht sprachliche Kommunikation, braucht geregelte und stabile Gemeinschaftsformen, braucht (relativ) gesicherte Lebensumstände, so dass man nicht alle körperlichen und geistigen Lebens-Kräfte auf das Überleben konzentrieren muss. Das war in manchen Menschen-Gemeinschaften auch schon vor der „landwirtschaftlichen Entwicklung“ der Fall (wir sehen das z. B. an den großartigen Tier-Bildern in vielen dauerhaft bewohnten Höhlen, z. B. in der Höhle von Altamira in Nordspanien oder der Chauvet-Höhle in Südfrankreich). Kunst, z. B. Bild-schaffende oder Figur-gestaltende Kunst (z. B. der „Löwenmensch“ von der schwäbischen Alb), auch dekorative Kunst bei der Gestaltung von Keramik, wahrscheinlich auch Gesang und Tanz, dazu erzählende und mythen-bildende Sprache) konnte sich vor allem in stabilen (vor allem sesshaften) Gemeinschaften mit relativ gesicherten Lebensgrundlagen entwickeln. Sie war wohl wesentlich weiter verbreitet, als wir das heute wissen können, denn nur in Höhlen, wo die Kunstwerke nach deren Entstehung durch Einsturz der Höhlen-Zugänge eingeschlossen und so für lange Zeit „konserviert“ wurden, konnte sie über Zehntausende von Jahren erhalten bleiben. Kulturleistungen in Holz, Erde, Farben (z. B. Körperbemalung) haben die Jahrtausende nicht überdauert (oder vielleicht doch indirekt, indem sie in Form von Traditionen der Stämme und Völker als deren kollektives „Gedächtnis“, von Generation zu Generation weitergetragen wurden?) Vielleicht ist ja das hübsch geschminkte Gesicht einer Frau in 21. Jahrhundert noch ein gegenwärtiger Ausdruck einer uralten „Körperkunst“ unserer Steinzeit-Vorfahren?

5.7 Schriftliche Entwicklungen

Ebenso fundamental und entscheidend für die geistige Entfaltung des Menschseins, wie es die „Entwicklung von Sprachen“ war (siehe oben Punkt 2), war die (viel spätere) „Erfindung“ und Entwicklung der Schrift. Durch sie wurde Sprache „konservierbar“. Bis dahin konnte jede sprachliche Äußerung nur im Gedächtnis der unmittelbar als Redende und Hörende Beteiligten für kurze Zeit „aufbewahrt“ bleiben (bzw. durch mündliche Weitergabe, aber da oft mit großen Verlusten). Nun aber konnten sprachliche Informationen räumlich-transportabel gemacht werden: Die Anordnungen eines Herrschers z. B. konnten, auf Tontafeln oder Pergament fixiert, bis in weit entfernte Orte seines Herrschaftsbereichs gebracht und dort wieder in hörbare Sprache „rückübersetzt“ (d.h. vorgelesen) werden. Ebenso konnte man nun Sprache auch „zeitlich-transportabel“ machen: Die Anordnung des Herrschers (siehe oben) konnte man nun auch noch Jahre später im ursprünglichen Wortlaut wieder zu Gehör bringen. Man konnte nun z. B. ganze Gesetzestexte fixieren (z. B. die Gesetze des Hammurabi vor mehr als dreieinhalb Jahrtausenden) oder geschäftliche Abmachungen und Verträge (siehe die Tontafeln der Sumerer) oder Glaubens-Lieder (siehe die Psalmen der Bibel, die, ca. 2 ½ Jahrtausende alt, uns noch heute im 21. Jahrhundert „ansprechen“).

Sprache wurde durch „Verschriftlichung“ fixierbar und räumlich und zeitlich transportabel. Das bedeutet: Die Kommunikations-Möglichkeiten wurden räumlich und zeitlich fast unbegrenzt erweitert. Das Erfahrungswissen von einzelnen Menschen in einzelnen Gemeinschaften konnte nun gesammelt, verglichen, ergänzt und erweitert werden durch die Erfahrungen vieler anderer, auch wenn sie räumlich und zeitlich weit entfernt waren. Das hat die Menschheits-Geschichte über viele Jahrtausende entscheidend geprägt. Es entstand (und wird bis heute erweitert) ein „Weltwissen der Menschheit“, das über Jahrtausende hinweg in den „Bibliotheken“ der Welt (ob in alten Klosterbibliotheken oder gegenwärtig im Internet) gesammelt, aufbewahrt und verfügbar gemacht wird. Erst jetzt, im 21. Jahrhundert, bahnt sich durch die Nutzung von „künstlicher Intelligenz“ eine weitere „Überschreitung der bisherigen Möglichkeiten“ an (siehe das Thema „Natürliche und künstliche Intelligenz“ im Themenbereich „Herausforderungen der Gegenwart“ und hier, weiter unten, den Punkt 10 „digital-algorithmische Entwicklungen“).

5.8 Wissenschaftliche Entwicklungen

Im Gedächtnis von Menschen „fest“-gehaltene und bei Bedarf wieder „flüssig“ zu machende Erfahrungen sind die Voraussetzung für die Entstehung von „Wissen“. Und gesammeltes Wissen über Verhältnisse, Vorgänge und Veränderungen in der Umwelt ist die Voraussetzung für ein beginnendes und sich immer weiter entwickelndes „Umwelt-Verständnis“. Und erst jetzt, auf der Grundlage eines solchen, sich immer erweiternden und aufbauenden „Verständnisses“, kann so etwas wie „Wissenschaft“ in Gang kommen (siehe das Thema 3-7 „Der Sturm der Erkenntnis“ im Bereich 3 „Grundlagen der Gesellschaft“). Die Zusammenhänge und Entwicklungen sind dort ausführlicher dargestellt und können hier nicht wiederholt werden). Entscheidend für Entstehung und Weiterentwicklung von „Wissenschaft“ ist der Aufbau eines (zunächst regionalen, später globalen) „Menschheits-Wissens“, das zunächst durch mündlichen Austausch von Erfahrungen und „Erkenntnissen“ gebildet wurde, das aber erst durch die Entwicklung von Schriften zu einem „Menschheits-Schatz“ des „Welt-Wissens“ und „Welt-Verständnisses“ erweitert werden konnte.

5.9 Industrielle Entwicklungen

Das, was gewöhnlich mit „industrieller Revolution“ bezeichnet wird (maschinelle Produktion, kleinteilige Arbeitsteilung, Massenproduktion für anonyme „Märkte“, auch die Entstehung eines „Proletariats“ …), war eben nicht das Ergebnis einer „Revolution“ sondern die Folge von Entwicklungen, die schon vor Jahrtausenden begonnen wurden und in immer weiter aufeinander-folgenden und aufeinander-aufbauenden Schritten vorangegangen waren, wenn sie auch zu bestimmten Zeiten jeweils einen entscheidenden „Schub“ bekamen. So einen „Schub“ bekam die industrielle Entwicklung z. B. durch die Erfindung der Dampfmaschine, die große Mengen von nutzbarer Energie an beliebigen Orten (und sogar beweglich auf Schienen und Wasserstraßen) zur Verfügung stellte.

5.10 Elektronisch-algorithmische Entwicklungen

Eine wirklich neue Erscheinung, für die es nur wenige (und oft nur schwer erkennbare) vor-laufende Schritte gab, ist die Entwicklung von elektronisch-algorithmischen Systemen (siehe das Thema „natürliche und künstliche Intelligenz“). Voraussetzung dafür waren die Erfindung und Weiterentwicklung von Elektrik und Elektronik. Allerdings gab es auch Vorläufer für „programmierbare Steuerungssysteme“ ganz ohne Elektronik:

Ich habe einen Korkenzieher zum Öffnen von Weinflaschen (heute haben die meisten Weinflaschen keine Korken mehr, aber noch vor ein paar Jahren galt: Ohne Korkenzieher bleibt der Wein in der Flasche). Dieser Korkenzieher ist geradezu genial konstruiert: Man setzt die Wendel des Geräts in der Mitte des Korkens an und dreht nach rechts. Die Wendel schraubt sich in den Korken bis die ringförmige Halterung des Geräts am Flaschenhals anstößt. Wenn man nun weiterdreht, drückt diese Halterung einen speziell geformten Hebel nach oben und gibt dadurch eine neue Phase der Bewegung frei: Bisher hat die rechtsdrehende Bewegung die Korkenzieher-Wendel in den Korken hineingebohrt, nun zieht die gleiche Bewegung (über ein Gewinde oberhalb der Wendel) den Korken aus dem Flaschenhals. Das „Programm“ „drehe die Korkenzieher-Wendel in den Korken und ziehe dann den Korken aus der Flasche“ wird hier durch eine vollautomatische „mechanische Steuerung“ vollzogen (die Energie für den Vorgang kommt allerdings vom „Hand-Antrieb“). Man könnte das einen „mechanischen Algorithmus“ nennen. Ein paar Jahrzehnte vorher habe ich (bei einem Praktikum in einem Architektur-Büro) Bau-Massen mit Hilfe einer mechanischen Rechenmaschine berechnet (damals ahnte noch niemand etwas von “Taschenrechnern“, „Computern“ oder „Smartphones“). Man musste nur Zahlenwerte mit Hilfe kleiner Hebel einstellen und dann vorgeschriebene Drehungen an der Kurbel des Gerätes machen und bekam so das Ergebnis von Rechenaufgaben, die in schriftlicher Form langwierig und mühsam gewesen wären. Die Rechenvorgänge im Innern des Gerätes wurden (wie beim Korkenzieher) durch „mechanische Algorithmen“ vollzogen. Solche automatischen Steuerungssysteme ohne Elektronik gab es auch im industriellen Bereich, z. B. bei Webstühlen mit Lochkarten-Steuerung, die Stoffe mit vorher entwickelten und „programmierten“ Webmustern produzierten.

Solange „elektronisch-algorithmisch“ gesteuerte Geräte (z. B. Computer) im Grunde nichts anderes machen als mein Korkenzieher oder ein Lochkarten-Webstuhl (nämlich vorher programmierte Abläufe zu steuern), ist das noch nichts, was aus der Reihe der „geistigen Entwicklungen des Menschseins“ herausfällt (siehe die vorangehenden Abschnitte 1 bis 9). Mit der Entwicklung von „künstlicher Intelligenz“ aber ist ein Punkt erreicht, wo die „Menschheits-Entwicklung“ in neue Dimensionen vorstößt und es ist noch nicht abzusehen ist, wohin die uns führen werden. Das ist so, als ob mein Korkenzieher (ohne mein Zutun und ohne meine Einflussmöglichkeit) beim Rechts-Drehen autonom entscheiden würde, ob ich Wein oder Bier zu trinken bekomme (oder vielleicht sogar Gift?).

Schon immer mussten Materie, Energie und Geist zusammenwirken, um etwas zu gestalten. In frühen Entwicklungen standen dabei die materiellen Grundlagen in Vordergrund (Stein, Holz, Knochen, Elfenbein, Bronze, Eisen und Stahl …). Später wurden zu den materiellen Voraussetzungen noch die notwendigen Energien (Wasser- und Windkraft, Holz, Kohle, Öl, Atomkraft …) immer wichtiger. Immer aber waren die geistigen Kräfte von Menschen und menschlichen Gemeinschaften die entscheidenden Faktoren für Entwicklung und Fortschritt.

Jetzt aber, im Zeitalter der elektronisch-algorithmische Entwicklungen (in Computer-Programmen) wird der Faktor „Geist“ zur alles entscheidenden „Ressource“. Freilich auch zu einer möglichen Bedrohung, wenn er (in Form von künstlicher Intelligenz) der Kontrolle von Menschen zu entgleiten beginnt.

Alle oben genannten „geistigen Entwicklungen“ entstanden nicht voneinander isoliert, sondern in gegenseitiger Abhängigkeit und Verstärkung und sie entwickelten sich zum großen Teil gleichzeitig, nicht nacheinander, auch wenn manchmal ein bestimmter „Entwicklungs-Schub“ innerhalb eines Bereiches von vorausgehenden Entwicklungen in anderen Bereichen abhängig war (z. B. die Entwicklung von Sprache für eine weitergehende Entwicklung von Wissenschaft). Und alle diese Entwicklungen (von einfachsten Ansätzen bis zu den gegenwärtigen Erscheinungsformen) werden sich selbstverständlich auch nach uns noch fortsetzen (wenn die Menschheit nicht, in einem Akt wahnhafter Selbstzerstörung, allen Entwicklungen des Lebens auf dieser Erde ein Ende macht).

Eines haben wir bei all diesen Entwicklungen (und auch das schon seit Jahrtausenden) fast immer übersehen: Dass von Menschen vorangetriebene Entwicklungen nur dann nicht in Kampf und Krieg bzw. in Natur- und Selbstzerstörung münden, wenn unsere ethischen, Werte-geleiteten und durch Verantwortung geformten Einstellungen unsere (sehr oft von Besitzstreben und Machtgier getriebenen) geistigen „Fort-Schritte“ in Natur- und Menschen-freundliche Bahnen lenken.

Alle oben genannten geistigen Entwicklungen wurden nach einiger Zeit, und dann immer rascher zunehmend, für egoistische Zwecke missbraucht: Die Sprache zur Lüge, die Gesetze zur Entrechtung der Minderheiten, die Landwirtschaft zur Ausbeutung der Natur, die Kultur zur Selbstüberhöhung, die Schrift zur einengenden Vor-schrift, die Energie zur Waffe, die Industrialisierung zur Entwürdigung des Menschen als funktionierendes Teil einer „Maschinerie“, die künstliche Intelligenz zur Entmündigung der Menschheit (um nur einige Fehlentwicklungen anzudeuten). Und wir sehen, dass die elektronisch-algorithmische Entwicklung unserer Gegenwart uns nur dann nicht in eine selbstgemacht Katastrophe stürzen wird, wenn sie in der Zielrichtung menschenfreundlich und in der Anwendung verantwortlich begrenzt und „auf-gewertet“ wird durch ethische  Entwicklungen, die sie in Menschen-freundliche Bahnen lenkt (siehe das Thema 4-4 „natürliche und künstliche Intelligenz“). Ohne ethische Einstellung und Ausrichtung wird jede von Menschen angestoßene und weitergeführte  Entwicklung zur Fehl-Entwicklung mit der Gefahr, unsere Lebensgrundlagen und schließlich uns selbst zu zerstören.

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