Bereich: Grundfragen des Lebens

Thema: Die Frage nach dem Leid

Beitrag 1: So viel Leid! (Bodo Fiebig20. Oktober 2017)

Ein Museum bereitet eine Ausstellung von Werken eines berühmten Malers vor, der vor einigen Jahren verstarb. Der ist bekannt für seine Kompositionen aus leuchtenden Farben und da, wo er gegenständlich malte, für freundliche, ja oft heitere Motive. Sein letztes Werk allerdings ist ganz anders: eine große, fast wandfüllende Fläche, ganz schwarz, ohne erkennbare Struktur oder Schattierung. Das Bild ist signiert und mit einem Titel versehen: „Das halbe Leid“. Die Experten sind ratlos: Was hat das zu bedeuten? Zur Eröffnung der Ausstellung kommen viele Kunstliebhaber. Einer wendet sich an die Ausstellungsleiterin: „Ich war in seinen letzten Jahren oft bei ihm und wir haben über seine Bilder gesprochen. Dieses hier, „Das halbe Leid“ ist gar nicht sein letztes. Allerdings war es das letzte, an dem er kurz vor seinem Tode noch gearbeitet hat.“ „Wissen sie, warum es so anders ist als alle seine übrigen Werke? Und was bedeutet dieser seltsame Titel „Das halbe Leid“?“ „Ich habe die Entstehung des Bildes miterlebt. Er hatte schon Jahre vor seinem Tode damit begonnen. Er nahm eine große, weiße Leinwand und begann mit einem feinen schwarzen Stift darauf zu schreiben. Er wollte das Leid eines Menschen, irgendeines beliebigen Menschen, aufschreiben. Verstehen Sie: Alles Leid, vom Anfang an bis zum Ende. Vom ersten existenziellen Schrecken eines Kindes an, wenn es von der eigenen Mutter, die es bisher getragen und genährt hat, gewaltsam herausgepresst wird aus der warmen, weichen, schützenden Höhle, schutzlos in eine harte, kalte Welt, atemlos und von Erstickungsangst gequält bis zum ersten befreienden Schrei … Alles Leid der Jahre, Enttäuschung, Misserfolg, Missachtung, Verlust, Bedrohung, Angst, Einsamkeit, Krankheit, Schmerz und Verzweiflung … Alles Leid bis zum letzten Atemzug, Schmerz und Todesangst des Sterbenden, vergebliches ankämpfen des Lebens gegen den Tod … Er schrieb immer, wenn er zwischen seinen anderen Arbeiten Zeit hatte, und als die Leinwand vollgeschrieben war, fing er wieder oben an und schrieb über das schon Geschriebene hinweg weiter, immer wieder. Und als die Leinwand so vollgeschrieben war, dass auch nicht mehr das kleinste Fünkchen Weiß der Leinwand mehr zu sehen war, da war er gerade bei der Hälfte angekommen. Deshalb heißt das Bild „Das halbe Leid“.

Eine seltsame Geschichte, aber sie berührt uns. So voll Leid kommt uns manchmal das Leben vor. Natürlich nicht immer, es gibt ja auch die schönen und beglückenden Tage. Aber dennoch erscheint uns das Leid oft wie ein ständiger Begleiter des Lebens und manchmal wird uns das erschreckend bewusst:

Es geschah am 2. Weihnachtstag 2004, viele erinnern sich noch heute: Über 200 000 Menschen wurden an einem einzigen Tag, in wenigen Minuten, in den Tod gerissen, Männer und Frauen, Kinder und Greise, ganze Ortschaften von den Fluten zerstört und weggespült. Es gab Hunderttausende Verletzte, Millionen, die alles verloren haben. Eine Leid-Erfahrung von wahrhaft apokalyptischem Ausmaß! Und das alles nur, weil tief unter dem Meeresboden des Indischen Ozeans zwei tektonische Platten sich gegeneinander verschoben haben und sie dabei ein Erdbeben ausgelöst haben, das wiederum diese furchtbare Tsunami-Flutwelle verursachte. Das war ja einmal eine Katastrophe, die nicht durch die Bosheit und Gewalttätigkeit von Menschen verursacht wurde (wie die meisten), ja, die nicht einmal durch Gedankenlosigkeit und unverantwortlichen Raubbau an der Natur, durch Treibhausgase und Umweltverschmutzung … hervorgerufen wurde, sondern die einfach aus der Tiefe des Meeresbodens kam, von niemandem gemacht oder gewollt und von niemandem erwartet.

Wie viele Menschen werden damals diese Frage vor ihren verschiedensten Göttern geklagt, geweint, geschrien haben – und klagen und weinen und schreien sie heute immer noch: Warum? Warum? Und was sollen da wir Christen sagen, wir, die wir wissen, dass alles von Gott kommt, von dem einen Gott, der alles geschaffen hat, auch die tektonischen Platten und die Erdbeben und die Tsunami-Wellen? Warum, warum so viel Leid an einem Tag?

So bedrängend diese Frage sein mag, sie ist wohl auch ein bisschen naiv, ein wenig gedankenlos. So hart und brutal das klingen mag: Es ist an jenem zweiten Weihnachtsfeiertag 2004 nichts Besonderes geschehen. Nichts, was aus dem normalen Ablauf des Lebens auf dieser Erde herausgefallen wäre. Wir haben nur einmal ein wenig von dem Leid wahrgenommen, das tagtäglich auf dieser Erde geschieht. Wahrgenommen deshalb, weil es erkennbar gleichzeitig geschah und von der gleichen Ursache hervorgerufen wurde. Und es hat uns mit Recht erschüttert. Solch eine Welle von Tod und Leid und Unglück ist wahrhaftig zum Klagen und Weinen und Schreien!

Aber wir verschließen dabei die Augen vor der Tatsache, dass soviel Leid, soviel Schmerz, soviel Tod und noch mehr, jeden Tag geschieht. Jeden Tag sterben auf dieser Erde mehr als 200 000 Menschen, Männer und Frauen, Greise und Kinder. Und es gibt Länder, da sterben täglich mehr Kinder als Greise. Nein, nicht der Umfang an Leid und Tod war an jenem Tag und an den Tagen danach das Besondere, sondern der Umfang unserer Wahrnehmung davon. Und trotzdem, obwohl es eigentlich nichts Besonderes war inmitten des alltäglichen hunderttausendfachen Leidens und Sterbens, so war (und ist) doch jedes einzelne Schicksal eine menschliche Tragödie voller Angst und Schmerz, Verzweiflung und Trauer.

Wir nehmen das alltägliche Leiden und Sterben nur deshalb nicht so unmittelbar wahr, weil es vereinzelt und verstreut, hier und da geschieht, ungesehen von den Kameras der Nachrichtenagenturen, und weil es damit für uns weitgehend unsichtbar bleibt. Nur Gott, der allein das ganze Ausmaß des Leidens und Sterbens auf diesem Globus überschaut, hat in jeder Minute, auch in dieser Minute, jetzt, während Sie diesen Text lesen, hunderttausendfaches Sterben und millionenfaches Leid vor Augen (sollte einem da nicht jede Lust vergehen, einmal „Gott“ spielen zu wollen?).

Wenn diese Welt die Schöpfung eines guten Gottes ist, dann, so muss es dem unbefangenen Betrachter scheinen, dann ist diese Welt eine misslungene Schöpfung. Die Menschheitsgeschichte ist vom ersten Tag an und durch die Jahrtausende hindurch bis heute eine Geschichte von Unterdrückung und Ausbeutung, Gewalt und Krieg, von Leid und Tod. Wer wollte das leugnen? Und bei den Tieren, die Schmerz und Todesangst empfinden können, herrscht ein unerbittlicher „Kampf ums Dasein“, gilt das „Gesetz vom Fressen und Gefressen-Werden”. Und das soll die Schöpfung eines guten, liebenden Gottes sein? Müssen wir unsere bösen Erfahrungen verdrängen, unseren Schmerz verstecken, um uns den Glauben an einen „lieben Gott“ zu bewahren?

Wo war Gott als die Flut kam“? So fragte damals die Titelzeile einer großen Tageszeitung. Die Frage ist falsch gestellt: „Wo ist Gott“ müssen wir fragen, „wo ist Gott in dem alltäglichen hunderttausendfachen Sterben und millionenfachen Leiden gestern, heute und morgen rund um diesen ganzen Globus?“ Das ist die Frage, der wir uns stellen müssen.

Im Judentum nach dem Holocaust stellt man die Frage noch eindringlicher: Wo war Gott, als 6 Millionen Juden in unendliches Leid und in die Vernichtung getrieben wurden? Kann es nach Auschwitz überhaupt noch den Glauben an einen persönlichen oder gar liebenden Gott geben (siehe das Thema „Glauben nach dem Holocaust?“)? Stellen wir uns also dieser Frage: „Wo ist Gott in dem alltäglichen hunderttausendfachen Sterben und millionenfachen Leiden gestern, heute und morgen rund um diesen ganzen Globus?“

1 Die Warum-Frage

Die Frage nach dem Sinn des Leidens ist zugleich auch die Frage nach dem Sinn des Lebens (siehe das Thema „Die Frage nach dem Sinn“). Warum ist nicht einfach „NICHTS“? Warum sind wir da, warum leben und leiden und sterben wir? Ist das Leiden eine Strafe für vergangenes Unrecht? Hiob, der große Leidende des Alten Testaments, war einer der Ersten, der diese Frage als Glaubender mit aller Schärfe gestellt hat und der sich leidenschaftlich gegen diese Unterstellung wehrte, aber er bekam keine befriedigende Antwort auf seine Frage.

Nach der Katastrophe im Indischen Ozean wurde von frommen Christen die Frage gestellt, ob nicht die Flut womöglich eine Strafe Gottes war für die islamischen, buddhistischen und hinduistischen Völker dieser Gegend, weil sie sich bisher dem Evangelium verschlossen hätten. Aber, sieht so unser Gottesbild aus? Gott ein hunderttausendfacher Richter und Vollstrecker, der jeden umbringt, der sich ihm verweigert?

Auch Hiobs Freunde verengen die Leid-Frage immer wieder auf die Schuld-Frage; sie fragen, ob nicht doch das Leid des Hiob die Strafe für eine (vielleicht verborgene und unbewusste) Schuld sei. Hiob wehrt sich entschieden gegen diesen Vorwurf und am Schluss gibt Gott ihm recht. Es ist ja auch nur allzu offensichtlich, dass es den besten Menschen nicht immer am besten geht und dass die schlechtesten nicht immer am schlechtesten leben. Die Leid-Frage ist eben nicht zuerst und vor allem eine Schuld-Frage. Der Kausal-Zusammenhang zwischen unserem Tun und unserem Ergehen, zwischen Leben und Leiden, den uns die Warum-Frage suggeriert, ist nirgendwo durchgängig nachvollziehbar. Was aber dann? Warum leiden die einen, während es den anderen unverdient gut geht? Wir verstehen, dass es darauf keine einfachen, schnellen Antworten gibt. Wir können bestenfalls vorsichtige Annäherungen versuchen.

2 Die Wozu-Frage

Wir haben gesehen: Die „Warum-Frage“ führt uns zu uns keinen befriedigenden Antworten bei unserer Suche nach dem Sinn des Leids. Vielleicht kann uns die „Wozu-Frage“ weiterhelfen? Hat das Leid vielleicht eine Zukunftsperspektive, die ihm einen nachträglichen Sinn verleiht? Ist das Leid vielleicht dann eher einer Deutung zugänglich, wenn wir nach einem Zweck oder Ziel fragen?

Ein kleines Gedanken-Experiment soll uns weiterhelfen: Lassen wir in Gedanken Menschen, die wir kennen, an uns vorübergehen und sinnen ihnen nach mit der Frage, welchem von ihnen wir uns vertrauensvoll zuwenden würden, hätten wir mit einer Sorge, einer Angst, einer Not den Rat eines Menschen nötig. Fragen wir uns auch, welchen von ihnen wir als den Reifsten, Gütigsten, im Ganzen Menschlichsten ansehen würden; wir werden Erstaunliches dabei feststellen.

Wohl bewundern wir jene glücklichen Naturen, die, jung und schön und unbeschwert, scheinbar unberührt von jeglicher Härte des Lebens wie ein Sonnenschein ihre Umgebung erfreuen. Wir fühlen uns zu ihnen hingezogen, wir suchen ihre Nähe und es erhebt ihre Unbeschwertheit auch das Schwere in uns für kurze Zeit. Und doch vertrauen wir einem, dem das Leid eine Geschichte in die Seele geschrieben hat, mehr. Bei ihm suchen wir Erfahrung und Hilfe; an seinem Wort fassen wir Halt; sein Trost tröstet uns recht.

Wir haben in mancherlei Weise erfahren, wie das Leid einen Menschen verändern kann. Ja, es scheint oft so, als ob alle Veränderung, aufbauende oder zerstörende, die wesentlich war im Leben eines Menschen, durch eine Zeit der Dunkelheit, des Versagens und der Erniedrigung, des Zweifels und der Ohnmacht, des Schmerzes und der Krankheit bewirkt wurde.

Eine Angst, die man überwand, eine Qual, die man ertrug, eine Verzweiflung, der man nicht unterlag, eine Not, aus der man gerettet wurde, eine Nacht, der ein Morgen folgte – sie sind es, die einen Menschen formen.

Wir können wohl akzeptieren, dass ein Mensch durch Zeiten der Prüfung und Bewährung, der Formung und Läuterung hindurchgehen muss – um seiner selbst willen und für die, denen er noch begegnen soll, und wir bejahen es rückblickend, wenn auch der gegenwärtige Schmerz uns unerträglich erscheint.

Höchste Bewunderung bringen wir unfreiwillig Geformten, wir ohne unser Zutun Geläuterten denen entgegen, die in freiwilliger Hingabe sich unter Not und Gewalt beugten, um ihres Glaubens, ihrer Überzeugung oder um des Wohles anderer Menschen willen. Was aber ist mit den vielen, die ungewollt und ungefragt in tiefes Leid gestürzt wurden?

Oft haben wir diese Frage um und um gewendet: Warum leide gerade ich oder er oder sie? Wie kann Gott so etwas Schreckliches zulassen? Wo bleibt seine Gerechtigkeit? Wie können wir an einen Gott glauben, einen Liebenden, wie man uns sagt, der so etwas tut?

Wie soll der Mensch ein Leid annehmen, das auch nicht die geringste Frucht mehr bringen kann, weil es kein Ende hat, niemals mehr ein Aufatmen gönnt nach der beklemmenden Erfahrung, kein Aufstehen nach schwerem Fall, kein Erwachen aus quälendem Traum, kein Ende – außer dem Tod? Oft sind wir gegen diese Frage angerannt, wie gegen eine Mauer: Welchen Sinn soll uns solches Zerstörungswerk lehren, das kein Ende findet, außer jenem, das uns mit Entsetzen füllt? Welches Ziel soll so ein Ereignis haben, das keiner Reifung und Formung dient, keiner Züchtigung, ja nicht einmal mehr einer bloßen Bestrafung, sondern scheinbar nur achtlos und gleichgültig das Leben dem Tode in die Arme wirft?

Aber, sagt der biblische Glaube nicht, dass der Tod nicht das Ende sei, nicht das letzte, endgültige, nicht das letztlich gültige Ende, sondern dass danach noch Leben sein wird? Sagen wir nicht auch, dass danach kein Leid mehr sein wird, kein Hunger, keine Verfolgung, keine Ausweglosigkeit, keine Verzweiflung, keine Krankheit, kein Schmerz?

Haben wir nicht im Innersten zugestimmt, als wir sagten, dass das Leid sehr wohl einen Sinn haben kann, wenn danach noch ein Raum ist zu leben und zu handeln? Wenn aber im Tod alles Leid ein Ende findet, und danach noch Lebenszeit ist und Lebensraum, sollte dann nicht einer, der hier der Geschlagenste war, dort am höchsten aufgerichtet gehen?

Kann es sein, dass von allem, was wir hier erleiden, auch nicht ein Winziges zu viel ist, für das, was wir in diesem und in jenem Leben sein und werden sollen? Und dass das Große, das wir dort erfahren sollen, nicht nur Wiedergutmachung sein soll, ausgleichende Gerechtigkeit nach dem Motto, wem es hier schlecht geht, der soll es dort besser haben, sondern auch Frucht des Lebens und Leidens unserer Tage? Kann es sein, dass wir die Schule des Lebens (und Leidens) durchlaufen, um dort wirklich erwachsen zu sein? Kann es sein, dass uns dort Möglichkeiten des Lebens und Handelns zugedacht sind, von denen wir hier nicht einmal träumen?

Es entspricht ja nicht biblischer Verheißung, wenn wir meinen, dass jenes „ewige“ Leben, dem wir entgegengehen, nichts anderes sein wird als ein unberührtes, geschichtsloses Dasein, das keine Erinnerung an dieses Leben hier hat, nichts, als eine unendliche Zeit inhaltsloser Glückseligkeit, die weder Weg noch Wandlung mehr kennt. Nirgendwo steht geschrieben, dass uns dort die Erfahrungen dieser irdischen Zeit – die freundlichsten und die bittersten – nicht mehr zur Verfügung stehen. Es entspricht nicht der biblischen Botschaft, wenn wir meinen, dass sich jenseits des dunklen Todes-Tales eine ewigweite, sonnenhelle Ebene erstreckt, eine endlose, ziellose, ereignislose Wüste des Glücks. Die Bibel beschreibt uns das kommende Reich als eine glänzende Stadt voller Leben, in der die entscheidenden Erfahrungen und Herausfor­derungen noch auf uns warten.

Gewiss: Die „wozu-Frage“ kann uns eine Perspektive eröffnen, die manchen unserer Leiderfahrungen einen tragenden Sinn zu geben vermag. Trotzdem: Wir leben und leiden hier und heute und der Hinweis auf etwas, das „später“ oder „jenseits“ ist, macht uns das gegenwärtige Leid kaum leichter. Außerdem: Ist denn das gegenwärtige Leid wirklich notwendig, um uns auf das Leben in einer zukünftigen Welt ohne Leid vorzubereiten? Wir werden darauf noch zurückkommen.

Wir müssen es zugeben: Das ganze Ausmaß des Leids auf dieser Erde ist auch durch die Perspektive des kommenden Heils nicht erklärbar und nicht ertragbar: Nicht die unendlichen Quälereien in den Folterkellern der Diktaturen der Vergangenheit und auch unserer Gegenwart. Nicht das wahllose Abschlachten tausender unschuldiger Menschen im Mordrausch einer aufgehetzten Menge. Nicht das unsagbare Leiden und Sterben Hunderttausender in den Konzentrationslagern der vergangenen und gegenwärtigen ideologisch oder religiös begründeten Gewaltsysteme. Nicht der gewollte und geplante Völkermord. Wie sollte das alles in der Schöpfung eines guten Gottes erklärbar sein? Wir werden später noch auf diese Fragen zurückkommen (siehe die Beiträge „Die Schuld Gottes“ und „Der Plan Gottes“). Jetzt müssen wir aber erst noch eine ganz wesentliche Unterscheidung vornehmen: Die Unterscheidung zwischen verschuldetem und unverschuldetem Leid.

3 Zwei Hauptformen des Leids

Es gibt zwei Hauptformen des Leids, das unverschuldete Leid und das verschuldete Leid. Wir müssen sie deshalb so deutlich voneinander unterschieden, weil die Folgen, die Reaktionen auf diese unterschiedlichen Leiderfahrungen völlig verschieden sind. Nehmen wir an, Kinder spielen auf einem Spielplatz. Eines stolpert beim Rennen, fällt hin und schlägt sich das Knie auf. Es blutet, es tut weh. Nehmen wir an: Das gleiche Kind rennt und ein anderes stellt ihm aus purer Bosheit ein Bein, so dass es hinfällt und sich das Knie aufschlägt. Es blutet, es tut weh. Die Verletzung und der Schmerz sind äußerlich gesehen beide Male die genau gleichen, und doch sind es zwei völlig verschiedene Situationen.

Im ersten Fall stehen die anderen Kinder um den Verletzten herum, bedauern ihn, versuchen ihm zu helfen und zu trösten. Einer hat vielleicht ein sauberes Taschentuch dabei und sie versuchen, die Wunde zu verbinden. Wenn das nicht geht, versuchen sie Hilfe zu holen usw. Das Opfer macht mitten im Schmerz die Erfahrung von Zuwendung und Nähe.

Im zweiten Fall wird das verletzte Kind furchtbar wütend sein über das andere, das ihm absichtlich diesen Schmerz zugefügt hat. Wenn es seine Verletzung zulässt, wird er versuchen, sich zu rächen und nun seinerseits dem anderen Schmerzen zuzufügen, indem es auf dieses einschlägt, ohne nachzudenken, blind vor Schmerz und Wut. Andere Kinder werden für ihn Partei ergreifen, oder auch für den anderen. Und vielleicht wird es zu einem heftigen Streit kommen, zu einer Prügelei, bei dem am Ende mehrere Kinder verletzt sind. Zur Erfahrung des Schmerzes kommt nun auch noch die Erfahrung von Feindschaft hinzu. Verschuldetes, absichtlich zugefügtes Leid verletzt viel tiefer als unverschuldetes, auch wenn die Wunde äußerlich genau gleich ausschaut.

Das meiste Leid, das Menschen auf dieser Erde bedrückt, ist aber verschuldetes Leid. Zur gleichen Zeit, als nach der Tsunami-Katastrophe rund um den Indischen Ozean eine großartige Spenden- und Hilfsaktion anlief, kamen auf dieser Erde durch Bürgerkriege, Stammeskriege, Religionskriege, durch Folter und Mord, durch Ausbeutung und Unterdrückung, durch Kriminalität und Gewalt viel mehr als 200 000 Menschen um. Kaum jemand kümmerte sich darum, kein Reporter war dabei. Niemand hat gesammelt, obwohl man doch auch von dieser Not weiß.

Verschuldetes Leid gibt es in zwei Hauptformen:

Ungleichheit, Erniedrigung und Unterdrückung

Bedrohung, Gewaltanwendung und Verletzung.

Für die überwiegende Mehrheit aller Menschen unserer Gegenwart sind Erfahrungen von Ungleichheit, Erniedrigung und Unterdrückung im Bezug auf Menschenwürde, Rechtssicherheit und Entwicklungschancen alltäglicher Bestandteil ihrer Lebenswirklichkeit. Genannt seien hier nur menschen­unwürdige Arbeitsbedingungen, Zwangsarbeit, Sklaverei, Entwürdigung als Frau … die es ja heute noch (oder wieder) millionenfach gibt.

Hinzu kommen verschiedene Formen von emotionaler Abhängigkeit, und sozialer Erniedrigung: Sexuelle Ausbeutung und Missbrauch, emotionale und soziale Deklassierung durch Mobbing und Rufmord, Abdrängen von Menschen mit eher praktischer und weniger intellektueller Begabung ins „Unterschichtenmillieu“; geistige Ausbeutung durch finanzielle Abhängigkeit geistiger Leistungen und deren Urheber von jenen, die die Vermarktung solcher Leistungen finanzieren, …

Dazu kommt die gesellschaftliche Deklassierung bestimmter Berufsgruppen, Rassen, Kasten, Einkommenssituationen usw. durch die herrschenden Gruppen (z. B. Selbstbestimmungsrecht nur für Adelige, Wahlrecht nur für Reiche, Zugang zu bestimmten Ämtern nur für angehörige der Eliten, unabhängig von ihrer Eignung); Abwertung für bestimmte Kasten, Volksgruppen, Kulturen …, bewusste Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten als Reservoir für billige Arbeitskräfte; gesellschaftliche Ausgrenzung für Behinderte, Alte, Kranke (alle, die der sogenannten „Allgemein­heit“ zur Last fallen)…

Leiderfahrungen durch Ungleichheit, Erniedrigung und Unterdrückung betreffen ein Großteil aller Menschen in irgendeiner Art und Weise.

Leiderfahrungen durch Bedrohung, Gewaltanwendung und Verletzung sind die direkteste Form von „verschuldetem” Leid, die auch ihre Opfer am direktesten trifft. Die Erfahrung von körperlicher Gewalt mit verletzenden, ja lebensbedrohlichen Folgen, die nicht durch einen Unfall verursacht ist, sondern von den Peinigern bewusst als Mittel zum Zweck eingesetzt wird, ist eines der verstörendsten und zerstörendsten Erlebnisse, die ein Mensch haben kann (z. B. auch bei Misshandlung und Missbrauch von Kindern). Ihre bösartigste Form ist die Folter.

Körperliche Bedrohung und Gewalt werden auch oft als Mittel zur emotionalen Beeinflussung eingesetzt. Man will verunsichern, Angst erzeugen, eine allgemeine psychische Destabilisierung in Gang setzen; man will den Willen einer Person (oder auch einer Gruppe, eines Volkes …) und deren psychische Widerstandsfähigkeit brechen; man will demütigen und die eigene Überlegenheit demonstrieren. Die auffälligste Form solcher Bestrebungen, anderen bewusst Leid zuzufügen ist der Terrorismus in allen seinen Erscheinungsformen: Gewalt, Mord, Vergewaltigung …

Ebenso zerstörerisch wirken sich Methoden zur geistigen Überwältigung von Menschen aus: Durch eine geschickte Mischung von subtiler Beeinflussung und brutaler Gewaltanwendung ist es offenbar möglich, nicht nur die körperliche Unversehrtheit und die emotionale Verfassung eines Menschen zu zerstören, sondern auch sein Denken und seinen Willen einer fremden Gewalt zu unterwerfen. In den „Umerziehungslagern“ der stalinistischen und maoistischen Diktaturen ist solche „Gehirnwäsche“ im großen Stil an Millionen von Menschen versucht und durchgeführt worden. Aber auch im engeren (öffentlichen oder privaten) Bereich sind solche Versuche zur geistigen Überwältigung von Menschen möglich. Dies geschieht überall da, wo angestrebt wird, durch physische oder psychische Gewaltanwendung den Willen eines Menschen zu brechen und sein Denken „auf Linie“ zu bringen.

Das (in Europa) bekannteste Beispiel für Bedrohung, Gewaltanwendung und Verletzung von Menschen unter religiös-ideologischem Vorzeichen war die Inquisition (auch wenn sie bei weitem nicht so flächendeckend, zahlenmäßig umfangreich und im Ergebnis vernichtend betrieben wurde, wie man heute unterstellt; sie war jedenfalls zu keiner Zeit so allgegenwärtig wie etwa Gestapo oder Stasi, und sie hatte niemals Millionen von Opfern wie etwa die SS in Deutschland, der NKWD in der Sowjetunion unter Stalin oder die „Roten Garden“ im maoistischen China). Trotzdem ist ihr Vorgehen, da wo sie Gewalt angewendet hat, als eine bewusst böswillige Zerstörung von Menschenleben ohne Abstriche zu verurteilen. Auch heute gibt es in vielen (meist islamischen) Ländern eine „Religionspolizei“ mit weitgehenden Vollmachten zur Gewaltanwendung gegen Andersgläubige und Andersdenkende.

Verschuldetes Leid war es auch, was Christen einander gegenseitig angetan haben im dreißigjährigen Krieg, in Ketzerverfolgungen und Hexenprozessen… Verschuldetes Leid war auch, was Christen in zwei Jahrtausenden den Juden, die verstreut unter ihnen wohnten, angetan haben und was im Namen des deutschen Volkes den Juden im „Dritten Reich“ angetan wurde. Das Schicksal der Juden im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland und Europa ist das extremste Beispiel für bewusst herbeigeführte Ausgrenzung und Verarmung, für Erniedrigung und Unterdrückung bis hin zum Völkermord.

Die Natur ist „natürlich” von Leid und Tod geprägt. Aber es gibt eine Art von Leid, das nicht sein müsste (und das man deshalb als „böse” bezeichnen muss): Das „verschuldete Leid”. Das Leid, das Menschen einander antun, bewusst, absichtlich und böswillig, aus Eigennutz und Habgier, Machtstreben und Mordlust, das ist es, was die Schöpfung zu einem Ort des Schreckens machen kann. Das verschuldete Leid ist es, was die Menschheitsgeschichte seit Jahrtausenden verdunkelt.

Aber gibt es nicht auch eine „Schuld” Gottes angesichts des Leidens in der Welt? (Siehe den Beitrag Die „Schuld“ Gottes)

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© 2011 Bodo Fiebig Die Frage nach dem Leid, Version 2017-10

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