Bereich: Grundfragen des Lebens

Thema: Die Frage nach dem Leid

Beitrag 2: Die „Schuld“ Gottes (Bodo Fiebig20. Oktober 2017)

Das ist ja eine der beklemmendsten Fragen biblischen Glaubens: Warum hat Gott nicht gleich eine vollkommene Welt geschaffen, eine Welt ohne Leid und Schmerz, ohne Behinderung und Demenz, ohne Krankheit und Tod? Er hätte das doch tun können, oder nicht? Und hätte er die Menschen nicht so schaffen können, dass sie das Böse nicht kennen und nicht wollen und nicht tun, dass es Bosheit und Betrug, Feindschaft und Hass, Gewalt und Krieg zwischen ihnen nicht gibt? Hätte er nicht eine Natur schaffen können, wo jedes Geschöpf ungefährdet leben kann und nicht eingespannt ist in einen unerbittlichen Kampf ums Dasein, wo jedes Lebewesen nur leben kann, wenn es anderes Leben tötet und frisst? Heißt es nicht in der Bibel, als Gott die Schöpfung gemacht hatte: Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut (1. Mose 1, 31)? Ist sie wirklich „sehr gut”, diese Welt in der wir leben?

Diese Fragen sind nicht so einfach zu beantworten. Sie berühren die Grundlagen unseres Welt- und Selbstverständnisses und unseres Glaubens: Sind diese Welt und in ihr das Leben und das Menschsein etwas zufällig aus den blinden Kräften der Natur von selbst Entstandenes, dann gehören Leid und Tod eben dazu, und niemand ist dafür verantwortlich zu machen. Wenn aber diese Welt etwas bewusst und gewollt Geschaffenes ist, geschaffen von einer Macht, die uns als väterlich-liebevoll vorgestellt wird, dann erscheinen uns Leid und Tod als etwas Ungehöriges, etwas, was uns hilflos oder zornig macht (siehe das Thema „gut und böse“, Abschnitt 1 „Böses in einer guten Schöpfung?“) Wozu soll denn das gut sein, dass jedes Leben leidet und stirbt? Wozu soll denn das gut sein, dass alles Lebens in einem unerbittlichen „Kampf ums Dasein“ verstrickt ist?

Wie kann man angesichts des Übermaßes an Leiden in dieser Welt an einen liebenden Gott glauben, der all dies geschaffen hat? Ist die Schöpfung dem Schöpfer unter den Händen misslungen wie das Werkstück eines ungeschickten Bastlers? Oder hat unser „norma­les“ Leben, in dem sich oft so viel Verstörendes und Zerstörendes und oft so wenig Frohmachendes findet, doch einen Sinn, um dessen willen sich das Leben lohnt? Wir wollen dieser Frage zunächst in vier Schritten nachgehen: 1 „Grenzen des Lebens”, 2 „Das Leiden in der Natur”, 3 „Die Berufung des Menschen” und 4 „Ein Perspektivenwechsel”.

1 Grenzen des Lebens

Wir müssen an dieser Stelle die Frage nach dem Woher und Wozu des Leides noch grundsätzlicher stellen: Der Tod (sozusagen das Leid in Vollendung) ist ja in Wahrheit nicht ein Betriebsunfall des Lebens, etwas, was es eigentlich nicht geben dürfte. So sehen wir es ja meistens: Tod und Leid dürfen nicht sein. Aber, nüchtern betrachtet, ist nicht der Tod das Besondere, das, was es eigentlich nicht geben dürfte, sondern das Leben. Das Selbstverständliche und „Natürliche“ ist der Tod.

Wir können uns das an ganz einfachen Tatsachen klar machen: Das Leben kann nur in sehr engen Grenzen von äußeren Bedingungen existieren. Ein paar Grad durchschnittlicher Temperatur auf der Erde mehr oder weniger, eine etwas schnellere oder langsamere Umdrehung der Erde, ein etwas größerer oder kleinerer Abstand zur Sonne, eine etwas andere Art und Intensität der Weltraumstrahlung, die unsere Erde erreicht, eine etwas andere chemische Zusammensetzung der Atmosphäre, des Bodens, des Wassers in den Flüssen und Ozeanen … und schon wäre das Leben auf der Erde als Ganzes bedroht oder schon gänzlich vernichtet. Nur in einem ganz winzigen Ausschnitt von verschiedensten physikalisch-chemischen Bedingungen, die alle gleichzeitig erfüllt sein müssen, kann Leben überhaupt existieren.

Seit Jahren suchen die Astronomen am Sternenhimmel mit riesigem Aufwand und dem Einsatz modernster Technik nach einem Planeten, der wie unserer geeignet wäre, das Leben zu tragen. Sie haben noch keinen gefunden, der wirklich den Lebensbedingungen auf unserer Erde entspricht. Das Leben auf dieser Erde ist offensichtlich im ganzen Universum eine höchst unwahrscheinliche, möglicherweise sogar eine wirklich einmalige Ausnahmeerscheinung. Die mathematische Wahrscheinlichkeit jedenfalls, dass es so etwas wie „Leben” überhaupt entstehen konnte, ist so außerordentlich gering, dass man seine Existenz – auch vom Standpunkt einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise her – nur als „Realität von etwas eigentlich Unmöglichen“, also als „Wunder” ansehen kann. Freilich als ein Wunder mit Schattenseiten: Leid und Schmerz, Krankheit und Tod. Wir müssen also von den naturwissenschaftlichen Fakten her die Dinge genau andersherum sehen, als wir es gewohnt sind: Nicht, dass es Leid und Tod gibt ist das Bemerkenswerte, sondern dass es das Leben gibt.

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2 Das Leiden in der Natur

Ist diese Schöpfung, in der wir leben, ein misslungenes Experiment? Sehen wir auf eine Hauptlinie der biblischen Offenbarung: Gott hatte in einem ersten Schöpfungsschritt ein Universum geschaffen aus Materie und Energie in Raum und Zeit (1. Mose 1,1): Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Diese materielle Schöpfung war und ist leblos, empfindungslos und ohne jede Ahnung, das irgendetwas „leidvoll” oder (im Gegensatz dazu) „angenehm” sein könnte.

Dann hatte Gott in einem zweiten großen Schöpfungs-Schritt das Leben geschaffen: Einzeller und dann nach und nach hochkomplexe Lebewesen. Erst Pflanzen (1. Mose 1, 11): Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe, und fruchtbare Bäume auf Erden, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen, in denen ihr Same ist. Und es geschah so. Dann Tiere (1. Mose 1, 20-24): Und Gott sprach: Es wimmle das Wasser von lebendigem Getier, und Vögel sollen fliegen auf Erden unter der Feste des Himmels. (…) Und die Erde bringe hervor lebendiges Getier, ein jedes nach seiner Art: Vieh, Gewürm und Tiere des Feldes, ein jedes nach seiner Art. Und es geschah so.

Das Leben aber kann (siehe oben) nur innerhalb sehr enger Grenzen von Umweltbedingungen existieren. Um geeignete Lebensräume zu finden und zu besetzen, entwickelten Lebewesen (auch schon Einzeller in verschiedenen Entwicklungsstadien) im Laufe der Zeit Sensoren für lebensfreundliche oder lebensfeindliche Umweltbedingungen. Und so gab es nun zum ersten Male Geschöpfe in der Schöpfung, die Eindrücke von außen wahrnehmen konnten: Hitze und Kälte, Licht und Dunkel, Geräusche und Stille, Gerüche und Geschmack, Berührungen und Schmerz … Aber diese Fähigkeiten haben auch ihre Kehrseite: Zum ersten Mal gab es damit auch Wesen, die „Leid” empfinden konnten, nämlich dann, wenn die Umweltbedingungen an die Grenzen des Erträglichen kamen: Zu heiß, zu kalt, zu trocken, zu wenig Sauerstoff, zu wenig Nahrung …

Leben braucht, um dauerhaft leben zu können, eine Umweltwahrnehmung, die ihnen hilft, gute Umweltbedingungen zu finden und schädliche zu vermeiden, das gilt für eine einzellige Bakterie genau so wie für ein hochentwickeltes Säugetier. Jede Umweltwahrnehmung kann aber grundsätzlich auch Leid hervorrufen, nämlich dann, wenn die Umwelt sich so verändert, dass ihre Zustände das Leben bedrohen und die Wahrnehmung dieser Zustände Unwohlsein und Schmerzen verursacht. Ob uns das gefällt oder nicht: Solches „Leid”, das durch die Wahrnehmung der Umwelt entsteht, ist für das Leben unbedingt lebensnotwendig, denn nur so können Lebewesen geeignete Lebensräume finden und besiedeln und ungeeignete Umweltfaktoren meiden. Nur eine Schöpfung ohne Leben könnte eine Schöpfung gänzlich ohne Leid sein. Wäre ein Lebewesen gefühllos wie ein Stein, dann wäre es auch tot wie ein Stein. Dadurch dass der Schöpfer das Leben so gestaltete, dass es seine Umwelt wahrnehmen kann, ist es zwangsläufig auch dem Leiden ausgesetzt.

Es gibt noch eine zweite Art von Leid, die wir Gott gern vorwerfen: Den Kampf ums Dasein und das Fressen und Gefressen-Werden in der Natur. Muss es denn wirklich sein, dass ein Lebewesen nur leben kann, wenn es anderes Leben tötet und frisst?

Fragen wir zunächst einmal anders herum: Was wäre denn die Folge, wenn es den Tod (und damit auch das Leid) in der Natur nicht gäbe? Die Antwort ist einfach: Dann gäbe es auch das Leben nicht. Wenn das Leben jedes Lebewesens unbegrenzt lange dauern würde, dann wäre die erste Generation des Lebens (die erste lebensfähige Zelle) auch die Einzige. Wenn es den Tod nicht gäbe, wären alle Lebensräume längst überbesiedelt, alle Ressourcen längst erschöpft und das Leben auf dem Niveau der ersten Ur-Zellen stehen geblieben. Unser Denken ist falsch herum gepolt: Der Tod ist nicht der Feind des Lebens, sondern er ist die Lösung eines scheinbar unlösbaren Problems: Entweder ist das Leben unsterblich, dann kann es sich aber nicht weiterentwickeln. Oder das Leben hat die Potenz der Entwicklung und Entfaltung, dann darf es aber nicht unsterblich sein.

Nur so kann ja das Leben über lange Zeiträume erhalten bleiben und sich trotzdem weiterentwickeln, dass das lebensgeeignete Material immer wieder neu „recycelt” wird in einem unablässigen Kreislauf von Leben, Sterben und Neugeburt. Das Leben würde buchstäblich verhungern, wenn es den Tod nicht gäbe. Jedes Lebewesen stellt durch seinen Tod die Nährstoffe zur Verfügung, von denen (umgesetzt in komplizierten und weit verzweigten Nahrungszyklen) die nächste Generation leben kann. Das Leben als Ganzes hat Dauer nur durch den Tod der Individuen. Der Versuch, jedes individuelle Lebens unbegrenzt zu erhalten, würde das Ende des Lebens allgemein herbeiführen, oder zumindest die Erstarrung des Lebens auf dem Stand der ersten Lebensformen.

Nein, Gott hat keine Schöpfung gemacht, in der alle Lebewesen leiden müssen, weil eines der Geschöpfe, der Mensch, vor Jahrtausenden einmal ungehorsam war, sondern er hat eine Schöpfung gemacht, in der das Leben möglich ist und in der es am Leben bleiben kann. Das, was wir gern als „Schuld Gottes” ansehen, ist einfach nur die Tatsache, dass er das Leben schuf und es so schuf, dass es leben kann und weiterleben kann. Und zwei der Bedingungen, die dazu beitragen, das Leben zu ermöglichen und zu erhalten und weiterzuentwickeln, ist erstens die Fähigkeit von Lebewesen, Umweltzustände wahrzunehmen, die entweder lebens-verträglich (also angenehm) sind und solche, die lebens-gefährdend (also leidvoll) sind und die Fähigkeit lebensverträgliche Umweltbedingungen aufzusuchen und lebensgefährliche zu meiden, und zweitens die ständige Erneuerung des Lebens durch Tod und Neugeburt. Das Leben auf dieser Erde ist „ Kampf ums Dasein“ und „Fressen und Gefressen-Werden“, ja, und doch zugleich auch Lebensgemeinschaft. Das Leben auf dieser Erde ist eine einzige große Symbiose, wo eines vom andern lebt, aber aber immer auch mit dem andern und für das andere. Die Todesverfallenheit jedes Lebens ist auch Zeichen dafür, dass alles Leben füreinander da ist.

Wir werden noch sehen, dass Gott die Schöpfung und das Leben nicht in Gang setzte wie ein großes Spielzeug, das, einmal aufgezogen, für eine Zeit lang die eingespeicherte Melodie abspielt und dann verstummt, sondern dass er mit der materiellen und biologischen Schöpfung erst die Voraussetzung geschaffen ist, dass etwas völlig Neues, etwas noch viel Unmöglicheres in Gang kommen kann, etwas, um dessen willen er alles geschaffen hat. Dazu, um dieses „Unmögliche” dennoch zu verwirklichen, dazu erwählte sich Gott aus der millionenfachen Vielfalt des Lebens ein Lebewesen, ein hochentwickeltes Säugetier, den Menschen, um mit ihm einen besonderen, einzigartigen Weg zu gehen, einen Weg, an dessen Ende die Überwindung allen Leides und auch des Todes stehen soll. Diesen Weg zu beschreiten und an der Hand seines Schöpfers bis zum Ziel zu gehen, das ist die Berufung des Menschseins.

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© 2011 Bodo Fiebig Die Frage nach dem Leid, Version 2017-10

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