Der Text 1. Mose 1,1 bis 2,4, den wir normalerweise als „Schöpfungsbericht“ der Bibel bezeichnen, mit den sechs Schöpfungs-„Tagen“, durch die das Weltall und die Erde und die Pflanzten und die Tiere und zuletzt auch der Mensch geschaffen werden, der beschreibt nur den ersten Teil der Schöpfung. Dieser erste Teil der Schöpfung mit der Erschaffung des Universums, des Lebens und des Menschseins, wäre aber völlig sinnlos, wenn er nicht eine Fortsetzung hätte, durch die die ganze Schöpfung doch noch „sehr gut“ werden könnte. Diese Fortsetzung (also der zweite Teil der Schöpfung) liegt nicht in einer fernen Vergangenheit oder Zukunft, sondern der findet jetzt statt, jetzt in unserer Gegenwart und er ist noch nicht abgeschlossen. Es ist jener Teil, in dem das Unglaubliche, das äußerst Unwahrscheinliche, ja das scheinbar völlig Unmögliche dennoch geschehen soll: Dass der Mensch zu seiner Berufung findet und das Menschsein zum „Bild“ Gottes wird, zur anschaubaren Vergegenwärtigung des Schöpfers durch die Liebe unter den Menschen mitten in dieser geschaffenen Welt, und dass Gott dann seine Schöpfung vollenden kann und dort alles Leid ein Ende findet. Dann erst ist die Schöpfung wirklich fertig und wirklich „sehr gut“ .
Der zweite Teil der Schöpfung, durch den das Geschaffene zur Vollendung kommt, existiert in dieser gegenwärtigen Zeitepoche nicht als fertige Gegebenheit, sondern als Herausforderung: Du sollst Gott lieben (und dich von ihm lieben lassen) und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Wenn diese beiden Gebote erfüllt sind, dann ist die Schöpfung vollendet und sehr gut.
Und diese Vollendung hätte schon vor Jahrtausenden geschehen sollen, damals im Garten Eden. Und auch als das gescheitert war, hat Gott in all den Jahrtausenden seitdem mit unendlicher Geduld immer wieder die Bedingungen zubereitet, dass diese Vollendung (wenigstens im Ansatz) doch noch geschehen könnte. Nein, nicht Gott ist schuld, dass die Schöpfung immer noch nicht vollendet ist und immer noch nicht „sehr gut”, immer noch so voller Leid und Not, Gewalt und Tod, und dass das nun schon so viele Jahrtausende so andauert, nicht Gott ist schuld, sondern wir Menschen, weil wir uns immer noch und immer wieder unserer eigentlichen und innersten Berufung verweigern! Schon das erste von Gott berufene Menschenpaar hätte, als Bild Gottes im Menschsein, in Liebe und Vertrauen einen entscheidenden Schritt hin zur Vollendung der Schöpfung gehen sollen und ist daran gescheitert. Und nach ihnen so viele Generationen von Menschen, in so vielen Völkern und Reichen, so viele Male. Und wir – heute?
1 Aussaat der Menschlichkeit
Die Schöpfungsgeschichte der Bibel reicht von ihrer ersten bis zur letzten Seite, von 1. Mose 1,1 bis Off 22,21. Und die Geschichte der Schöpfung Gottes reicht noch darüber hinaus von der nachbiblischen Zeit bis in unsere Gegenwart und noch darüber hinaus bis zum Wiederkommen Jesu als Messias und Friedefürst, durch den die ganze Erde „Reich Gottes“ wird.
Der erste Teil dieses Schöpfungsberichts (1. Mose 1,1 bis 2,4) umfasst die Milliarden von Jahren vom „Urknall“ bis zur Bereitung der Erde als möglicher Entstehungsort des Lebens und dazu die Millionen von Jahren von der ersten Urzelle bis zur Entfaltung des Lebens im Pflanzen- und Tierreich bis zur Herausbildung des Menschen. Wobei der biblische Text nicht eine lückenlose Chronologie aller Entwicklungen bieten will, sondern immer nur die für den Fortgang der Heilsgeschichte Gottes wichtigsten Weichenstellungen herausstellt.
Der zweite Teil der Schöpfung umfasst die Tausende von Jahren von der Erwählung Adams und der Entwicklung des spirituellen Menschseins bis zur Vollendung der Schöpfung im Reich Gottes. (Siehe das Thema „Zwischen Schöpfung und Vollendung”). Gott ist immer noch dabei, die Schöpfung, die er vor ca. 15 Milliarden Jahren begonnen hat, zu ihrem Ziel zu führen. Dann erst, wenn die ganze Schöpfung Reich Gottes ist, wird sie abgeschlossen und „sehr gut“ sein. Jetzt, in unserer Gegenwart, sind wir noch mitten in diesem zweiten Schöpfungsvorgang, dessen Ziel die Vollendung ist. Deshalb können wir auch nicht erwarten, dass die Schöpfung, unsere gegenwärtige natürliche und soziale Umwelt, jetzt schon „sehr gut“ und ohne Makel ist.
Den ersten Teil der Schöpfung, wo es um die Erschaffung der Materie, des Lebens und des Menschen ging, den hat Gott selbst und allein angestoßen und gestaltet.
Im zweiten Teil der Schöpfung, wo es darum geht, dass das Menschsein zum Ebenbild Gottes wird und die Gemeinschaft des Menschseins zum Reich Gottes und dadurch Gott selbst in der Schöpfung vergegenwärtigt und die Schöpfung vollendet und „sehr gut“, da ist die Mitarbeit und Mitverantwortung des Menschen unbedingt und unersetzlich notwendig. Es ist ja nicht möglich, dass das Menschsein zum Ebenbild der Liebe Gottes wird, ohne die Mitwirkung des Menschen. Alles kann geschaffen werden, die Materie und das Leben und das Menschsein. Aber die Liebe, die kann nicht geschaffen werden, die kann es nur geben als Ausdruck freier und bewusster Hingabe. Sie ist ja das Innerste vom Wesen Gottes selbst, das, was das Gott-Sein Gottes ausmacht, seine „Person“, seine „Identität“, sein „Geist“. Die Schöpfung Gottes kann nur „sehr gut“ werden, wenn die Menschen (das heißt menschliches Miteinander, ja die Gemeinschaft des Menschseins als Ganzes) zum „Bild“, d. h. zur anschaubaren Vergegenwärtigung Gottes in dieser Welt werden, und damit die Schöpfung Reich Gottes.
Dabei ging und geht Gott immer den Weg der Erwählung des Kleinsten als Same für das Wachsen und Werden des Größten. Das begann er zuerst mit einem einzelnen Menschenpaar im Garten Eden. Als das gescheitert war, fing er neu an mit Henoch und seinen Nachkommen. Als auch bei denen „die Bosheit groß geworden war“ (1. Mose 6,5) fing er neu an mit Noah und dessen Familie. Dann erwählte Gott sich Abraham, Isaak und Jakob und deren Sippe, die, in zwölf Stämme aufgeteilt, in Ägypten zu einem Volk heranwuchs. Dann führte er die Heilsgeschichte weiter in seinem ersterwählten Volk Israel durch Mose, David, die Propheten …, schließlich in der alles entscheidenden Zeitenwende durch seinen Sohn und Gesalbten Jesus von Nazareth. Dessen Jüngerschaft (die zunächst aus lauter Juden bestand und später in eine Weltverantwortung hineinwuchs), sollte zum sichtbaren Zeichen der Gottesgegenwart werden (Joh 13, 35: Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt), bis mit dem Wiederkommen Jesu die Schöpfung als „Reich Gottes” vollendet wird.
2 Die Ernte des Menschseins
Ist Gott also nichts anderes als ein kühler Stratege, der, um sein Ziel zu verfolgen, die Menschen in die Zerreißmühle des Lebens, Leidens und Sterbens wirft, in der Erwartung, dass dabei etwas abfällt, was er für seine Zwecke brauchen kann? Nein, gewiss nicht. Gott ist ja selbst der Liebende. Und er erwartet nichts von uns, was er nicht selbst uns im vollem Maße gibt. Er will ja, dass in jedem Menschenleben schon hier und jetzt die Liebe zur Entfaltung kommt und dass dadurch das Menschsein zu einem Erfahrungsraum beglückender Zuwendung wird und diese Erde zu einer Erlebniswelt der Freude.
Gott ist Liebe, Gott ist die Liebe, die uns nicht das Leben nimmt, sondern uns das Leben schenkt, indem sie sich selbst hingibt. Röm 8,31-32: Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Durch Jesus ist Gott in allem unserem Leid der Mit-Leidende, in allem unserem Tod der Mit-Sterbende. Gott ist jedem menschlichen Leid gegenwärtig und nahe, als der Heiland und Helfer, der mitten im Leid da ist und durchhilft und trägt und tröstet, „wie einen seine Mutter tröstet.“ Das Kreuz, Sinnbild menschlich-unmenschlicher Grausamkeit wird zum Symbol einer alles überstrahlenden Liebe.
Am Ende der von Gott gesetzten Zeit soll dann die Ernte jedes einzelnen Menschenlebens und des Menschseins als Ganzes eingebracht werden. Sie besteht (wohl ausschließlich!) aus den gesammelten Gedanken, Worten und Taten der Liebe, die man gegeben oder empfangen hat. Um dieser Ernte des Göttlichen willen vom steinigen Acker des Menschseins mitten in einer leiderfüllten Welt sind die ganze materielle Schöpfung und alles Leben gemacht und auch der Tod. Auch der Tod als der Erntewagen des Lebens, der die Ernte des Lebens und der Liebe einfährt.
Und dazu ist eine erste Phase nötig, wo sich die Liebe in dieser schönen und zugleich bösen Welt bewähren muss, in der Welt des „Kampfes ums Dasein“ und des „Fressens und Gefressen-Werdens“, im Herrschaftsbereich des Materialismus und Egoismus, im Triebstrudel der Sucht nach Besitz, Macht und rauschhaftem Erleben, im Gefängnis von Angst, Leid und Tod, inmitten von Not, Gewalt und Krieg. Diese erste Phase dauert noch heute an. Sie entspricht in unserem Bild von dem Künstler, der ein Bildnis aus Gold herstellen will (siehe Beitrag 4 „Das Gold der Liebe“), der Phase, wo er am Ufer des Baches steht und in mühseliger Kleinarbeit Körnchen um Körnchen das Gold aus dem tauben Gestein, dem Sand und dem Schmutz des Lebens herauswäscht. Jahrtausend um Jahrtausend, und noch ist offensichtlich die nötige Menge nicht erreicht.
Danach wird eine zweite Phase kommen, in der die Liebe im Reich Gottes unter der Herrschaft seines Messias, zur vollen Reife und Erfüllung gelangen kann. Das entspräche jener Phase, wo der Künstler sich in seiner reinen Werkstatt nur noch mit dem reinen Gold beschäftigt und es zur Vollendung formt.
Im gegenwärtigen Äon ist die unerlöste, von Leid und Not und Gewalt gezeichnete Natur die Rahmenbedingung für das Lernen und Tun der Liebe. Im messianischen Reich wird es eine befriedete und erlöste Welt sein, und der, der sie erlöst hat durch sein eigenes Leiden und Sterben, wird selbst König dieses Reiches sein. Aber auch da wird die Liebe nicht selbstverständlich sein, sondern (wie schon jetzt) das Ergebnis eines Prozesses der Menschwerdung als Bild Gottes in der geschaffenen Welt.
Dann erst, wenn beide Phasen vollendet sind, soll die volle Ernte des Menschseins eingebracht und mit Gott vereinigt werden, mit dem einen Gott, der selbst die Liebe ist. Dann wird die Schöpfung Gottes selbst göttlich sein und Gott „alles in allem“. Das vollendete Kunstwerk Gottes wird die vollendete Schöpfung sein, wo das Menschsein und alles menschliche Miteinander nur noch aus dem Gold der reinen Liebe besteht, und so ganz eins ist mit Gott, der selbst der Ursprung und das Wesen der Liebe ist.
Und da wird dann Gott selbst abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron sitzt wird sprechen: Siehe ich mache alles neu (Off 21, 4-5). Dieses vollkommene Ziel leuchtet schon sinngebend und richtungweisend in die Unvollkommenheit und Dunkelheit unserer Gegenwart hinein. Gott überlässt seine Schöpfung nicht den Kräften der Zerstörung. Und so ist er schon jetzt mit der ganzen Fantasie seiner unbegrenzten Liebe und mit der unwiderstehlichen Gestaltungskraft seiner Schöpfungsmacht am Werk, um die Liebe im Menschsein zu erhalten und das Auseinanderstrebende Schritt für Schritt zur Einheit zu sammeln. So soll schließlich die ganze Schöpfung mit hineingenommen werden in die Vollendung, die ihr von Anfang an zugedacht war.
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© 2011 Bodo Fiebig Die Frage nach dem Leid (Version 2017-10)
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