Bereich: Grundfragen des Lebens

Thema: Bewusst sein

Beitrag 1: Welt-Bewusstsein (Bodo Fiebig28. Juli 2023)

Das wollen viele: Bewusst sein. Nicht unbewusst getrieben sein von eigenen An-Trieben und gemeinsamen Um-Trieben, nicht unbewusst bewegt sein von eigener Lust oder Unlust, nicht unbewusst gesteuert sein von fremden Interessen und Beeinflussungen, sondern bewusst sein.

Allerdings: Zu einem „bewussten Sein“ wäre etwas nötig, was wir „Bewusstsein“ nennen, und da beginnen schon die Probleme: Dass es so etwas wie ein „Bewusstsein“ überhaupt gibt, das wird ja gegenwärtig vielfach bestritten: Alles, was wir denken oder fühlen, planen oder tun sei nur Folge von verschiedenen Gehirnaktivitäten, so meinen manche, ohne irgendetwas, was man „Bewusstsein“ nennen könnte. Und solche Gehirnaktivitäten seien ausschließlich Folgen von Bedürfnissen des Organismus oder von Sinnesreizen von außen oder von Zufallsreizen im Innern des Gehirns, aber nie „etwas Bewusstes“. Freilich: Ein Mensch, der bewusst sein will und bewusst leben will, kann sich mit einer solchen Verneinung des Bewusstseins nicht zufrieden geben.

Aber: Was ist das eigentlich, das „Bewusstsein“? Jeder hat es (bzw. meint, es zu haben) und keiner weiß, was das ist. Wir vermuten: Es ist etwas, was ganz zentral mit unserem Mensch-Sein zu tun hat (ob, bzw. wie weit auch Tiere ein Bewusstsein haben können, ist umstritten), aber es scheint kaum möglich, das mit „Bewusstsein“ Gemeinte irgendwie in Worte zu fassen.

Im Zusammenhang mit der Entwicklung von „künstlicher Intelligenz“ (KI) stellt sich die Frage nach dem „Bewusstsein“ ganz neu: Können Systeme mit künstlicher Intelligenz auch ein eigenes, von Menschen unabhängiges „Bewusstsein“ entwickeln? Für viele scheint das nur noch eine Frage der Zeit und der Weiterentwicklung der entsprechenden KI-Systeme zu sein. Das ist schon etwas verwirrend und stellt unser eigenes Selbst-Verständnis als Menschen in Frage. Bisher, in Zehntausenden von Jahren, waren die Menschen  weitgehend unter sich, wenn es um ein „Bewusstsein“ ging („Menschen“ jetzt speziell als „Homo Sapiens“ gemeint, ob frühere Formen von Menschen, etwa die Neandertaler, schon so etwas wie ein „Bewusstsein“ entwickelt hatten, darüber könnten wir nur spekulieren). Auch als unsere selbstgemachten Computer besser rechnen, sich mehr Daten merken und solche Daten schneller verarbeiten konnten als wir selbst, fühlten wir uns noch sicher: Computer und ihre Programme haben kein Bewusstsein. Und nun?

Eines scheint sicher: „Bewusstsein“ ist kein „Ding“, das man hat oder nicht hat, sondern dieser Begriff umschreibt eher ein „Bewusst-Werden“, umschreibt einem Prozess der Bewusst-Werdung, der sich auf verschiedenen Ebenen menschlichen Lebens, Erlebens und Zusammenlebens bildet, sich immer erweitert und verzweigt, sich gleichzeitig aber auch immer dichter vernetzt und das „Sein“ immer umfassender und bewusster integriert. Und dieser Prozess der Bewusst-Werdung, der lässt sich erkennen und beschreiben. Freilich: Einfach ist das nicht.

Es hilft nichts: Wir werden uns um die Grundlagen unseres Menschseins (und dazu gehört das, was wir „Bewusstsein“ nennen, ganz zentral dazu) bemühen müssen (vielleicht manchmal auch darum kämpfen müssen) und es wird nicht leicht sein. Aber die „Grundlagen des Menschseins“, die mit dem Begriff „Bewusstsein“ angesprochen werden, sind zugleich auch Voraussetzung jeder Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit und ohne die kann das Menschsein nicht leben und nicht überleben. Gehen wir also mit vorsichtigen Schritten an das Phänomen „Bewusstsein“ heran. In den Bereichen:

– Welt-Bewusstsein

– Selbst-Bewusstsein

– Sinn-Bewusstsein

und stellen dann die Frage, ob künstliche Intelligenz so etwas wie ein von Menschen unabhängiges „maschinelles Welt-, Selbst- und Sinn-Bewusstsein“ hervorbringen könnte.

Manche Inhalte, die hier im Zusammenhang mit der Frage nach dem „Bewusstsein“ von Menschen von besonderer Bedeutung sind, wurden auch früher bei schon bestehenden Themen (auf der Internet-Seite www.lebenundfrieden.de) angesprochen (wenn auch dort jeweils in anderem Zusammenhang), so dass manche Textabschnitte von dort übernommen werden konnten. Besonders gilt das für die Themen:

– Wer bin ich?

– Die Frage nach dem Sinn

– Sein und sollen

– Wirklichkeit und Wahrheit

– Der Sturm der Erkenntnis

– Natürliche und künstliche Intelligenz

Beitrag 1-10-1: Welt-Bewusstsein

Unser Bewusstsein hat (selbstverständlich) etwas mit unserem „Sein in der Welt“ zu tun. Wir können ja nicht bewusst sein ohne bewusst in dieser Welt zu sein.

Drei Aspekte (oder Voraussetzungen) für die Entwicklung eines „Welt-Bewusstseins“ werden hier beschrieben:

1 Welt-Wahrnehmung

2 Welt-Verständnis

3 Welt-Erkenntnis

daraus könnte (?)

4 ein „Welt-Bewusstsein“ entstehen.

1 Weltwahrnehmung

Hier soll eine beginnende Welt-Wahrnehmung zuerst anhand des Lebens und Erlebens einer Gruppe von Menschen angedeutet werden, die sich vor sehr langer Zeit in einer Höhle in der Nähe eines Baches niedergelassen hatte. Es werden im Verlaufe dieses Themas noch einige solche Szenen aus der Frühzeit der Entwicklung des Menschseins in erzählender Form eingefügt, um damit Entwicklungs-Zusammenhänge erkennbar zu machen. Diese Szenen sind hier jeweils in kursiver Schrift dargestellt.

 

Die Höhle am Bach

Stellen wir uns einen fiktiven Familienklan von Frühmenschen vor. Er hatte sich in der Nähe eines Baches angesiedelt, der weiter abwärts in einiger Entfernung in einen See mündete. Am Ufer des Baches hatte das Wasser schon vor unvorstellbar langer Zeit eine Höhle aus der Felswand gewaschen. Auf der offenen Seite der Höhle zum Bach hin hatten die Menschen die Öffnung mit passenden Steinbrocken teilweise verschlossen und nur einen schmalen Eingang frei gelassen. Der wurde nachts mit dicken Packen dornigen Gestrüpps für größere Tiere und gefährliche Feinde unzugänglich gemacht. In der Höhle, an einer Stelle, wo der Rauch gut abziehen konnte, bewachten und nährten die alten Frauen das Feuer, das nie ausgehen durfte. Und hier fand alles statt, was irgendwie schutzbedürftig war: Ruhe und Schlaf, Genesung von Krankheit oder Verletzungen, Zeugung und Geburt, Kindheit, Schwäche, Alter und Sterben.

Der Bach bot klares Wasser in Fülle und im See gab es Fische, die zwar schwer zu fangen waren, aber am Feuer gebraten, hervorragend schmeckten. Im Wald oberhalb der Felsen gingen die Männer im Winter, wenn der See zugefroren war, auf die Jagd nach Tieren, deren Fleisch man essen und aus deren Fell man Kleidung gegen die Kälte machen konnte. Im Talgrund am Bach und am Ufer des Sees suchten die Frauen und größeren Kinder nach essbaren Beeren, Körnern, Kräutern, Pilzen, Wurzeln, kleinen Krebsen und Muscheln.

Die Gruppe der Menschen, die in der großen Höhle am Bach wohnten, bestand im Wesentlichen aus drei Familien, einer größeren, deren Mitglieder fast die Hälfte der Gruppe ausmachte und zwei kleineren. Außerdem gab es noch drei Einzelpersonen, zwei junge Frauen und einen Mann, fast noch ein Knabe, die sich der Gruppe nach heftigen Kämpfen zwischen verschiedenen Sippen in der weiteren Umgebung und der darauffolgenden Notzeit angeschlossen hatten, und die nun in eine der beiden kleineren Familien aufgenommen und integriert waren.

Die nähere Umgebung ihrer Höhle kannten die Höhlenbewohner sehr gut. Sogar die größeren Kinder kannten fast jeden Stein, jeden Baum, wussten, welche Blätter von welchen Pflanzen man essen konnte, welche Beeren giftig und welche Tiere gefährlich waren und welche Art von Kiesel im Bach zum Spielen ihres beliebten Steinchen-Lege-Spiels am besten geeignet war.

Die Frauen wussten, wo man essbare Blätter und Wurzeln fand, wie man bei Pilzen essbare und giftige unterscheiden konnte, wie man Samen und Früchte zubereiten musste. Sie hatten gelernt, welche Kräuter bei Verletzungen heilend wirkten und sie beherrschten die hohe Kunst des Feuer-Machens, wenn die Glut am Feuerplatz in der Höhle doch einmal ausgegangen war. Ihre Kenntnis von den Veränderungen des Wetters und vom Ablauf der Jahreszeiten war hoch differenziert, denn davon hing das Leben jedes Einzelnen und der ganzen Sippe ab.

Die Männer kannten die Wälder in der weiteren Umgebung der Höhle, wussten genau, wie man welches Tier erlegen konnte und wie man als Gruppe, in der jeder Jäger eine bestimmte Aufgabe hatte, gemeinsam sogar so ein großes Tier wie ein Wisent oder einen Bären töten konnte. Sie wussten, wie und aus welchem Holz man Speere herstellen konnte, mit denen man größere Tiere anzugreifen vermochte, wie Werkzeuge und Waffen aus Holz und Knochen mit Spitzen und Klingen aus Feuerstein oder Obsidian hergestellt wurden und wie man sich bei Angriffen konkurrierender Menschen-Gruppen zur Wehr setzte.

 

Die Menschen von der Höhle am Bach kannten sich aus in ihrer Welt und hatten für die verschiedensten Lebenssituationen kluge Strategien bereit, wie man Herausforderungen bewältigen und Gefahren bestehen konnten. Solche vertrauten und oft geübten Verhaltensweisen waren nicht aus dem Nichts entstanden, sondern Ergebnis von jahrhundertelanger Umweltwahrnehmung und deren Verarbeitung, die sich innerhalb ihrer Gemeinschaft in vielen Generationen angesammelt hatte. Das soll im Folgenden etwas eingehender beschrieben werden.

 

1.1 Wahrnehmung von einzelnen Gegebenheiten

Umweltwahrnehmung ist eine der Schlüsselkompetenzen des Lebens. Nur durch sie kann das Leben sich geeignete Lebensräume erobern. Schon die erste lebende Zelle konnte und musste auf Umweltreize reagieren: Zu kalt, zu warm, zu hell, zu dunkel, zu wenig oder zu viel von bestimmten Stoffen in der chemischen Zusammensetzung der Umwelt – und schon wäre ihr Leben (und die Anfangsphase des Lebens insgesamt) bedroht. Freilich hätten einfachste Formen des Lebens auch ohne Umweltwahrnehmung jeweils dort überleben können, wo es zufällig geeignete Lebensbedingungen vorgefunden hätte (und wären überall dort gestorben, wo dies nicht der Fall war). Aber dann wäre das Leben für immer auf ein Nischendasein beschränkt geblieben. Wenn nicht schon das primitivste Leben eine Wahrnehmung von den Lebensbedingungen seiner Umwelt entwickelt hätte und Möglichkeiten, auch darauf zu reagieren, so hätte es niemals aktiv Lebensräume besiedeln können, die lebens-geeignet sind, und Umgebungen meiden können, wo tödliche Gefahren drohten.

Beginnen wir also ganz einfach: Jedes Lebewesen, und sei es nur ein einzelliges Bakterium, hat bestimmte Formen von Umweltwahrnehmung: Hitze und Kälte, Feuchte und Trockenheit, Fülle der „Lebens-Mittel“ oder Mangel … Höher entwickelte Lebewesen haben weiter entwickelte Wahrnehmungsmöglichkeiten: Sehen, hören, riechen, schmecken, tasten … Allgemein gesprochen: Lebende Organismen haben die Fähigkeit, bestimmte Eigenschaften ihrer Umwelt wahrzunehmen und darauf zu regieren. Nur dadurch sind sie auf Dauer lebensfähig, weil sie nur so lebensfördernde Umstände erkennen und aufsuchen können und lebensgefährliche Situationen vermeiden.

Ein Marienkäfer zum Beispiel (oder ein Regenwurm, eine Schwalbe, ein Reh oder ein Delphin …) kann Helligkeit und Dunkelheit wahrnehmen, kann Wärme und Kälte spüren, Mangel und Überfluss erleben … Er kann aber nicht die Helligkeit als „Helligkeit“ erkennen, denn er hat ja keine Möglichkeit, so einen Begriff zu bilden. Unser Marienkäfer denkt nicht nach über „Helligkeit”, er sieht einfach, und er denkt nicht nach über Wärme oder Kälte, er spürt sie. Er erlebt Mangel und Überfluss, ohne zu „wissen“, was das ist und ohne darüber nachzudenken, was die Ursache für diesen misslichen oder erfreulichen Zustand sein könnte.

Aber er hat bestimmte Verhaltensoptionen, je nachdem, was es sieht oder spürt und erlebt. Entspricht bei unserem Marienkäfer etwa das Gesehene dem Schema „Beutetier“ (z. B. eine Blattlaus), so wird es versuchen, dieses zu fangen und zu fressen. Entspricht das Gesehene dem Schema „Fressfeind“, so wird es versuchen, diesem zu entkommen. Dass für dieses „Sehen“ eine Voraussetzung notwendig ist, die wir Menschen „Helligkeit” nennen, weiß er nicht. Ebenso wenig weiß er, was „Dunkelheit“ ist. Es merkt es aber, wenn er wenig sieht und seine instinkthafte Ausstattung gibt ihm bestimmte Lebensweisen und Verhaltensmuster vor, die an dieses „wenig sehen“ und „wenig gesehen werden“ (also an die Dunkelheit der Nacht) angepasst sind.

Unser Marienkäfer ist also fähig, seine Umwelt wahrzunehmen und entsprechend darauf zu reagieren. Häufige Wiederholungen verstärken solche Wahrnehmungen. So entstehen nach und nach in der Wahrnehmung eines Lebewesens „Muster“ von Umweltreizen und Umweltsituationen, die es wiedererkennen und unterscheiden kann. Aus der Gleichartigkeit von ähnlichen Erfahrungen kann es dann nach häufiger Wiederholung bestimmte Verhaltensmuster entwickeln, um bestimmten Umweltsituationen zu begegnen.

Dazu gehört auch die Wahrnehmung von speziellen Schlüsselreizen (z. B. von Farben, Formen, Gerüchen, Geräuschen, Bewegungs­mustern …), die in ganz bestimmten Situationen bei einer ganz bestimmten Lebensform ganz spezielle instinktgesteuerte Reaktionen hervorrufen (z. B. Beute greifen, Flucht, Sexualverhalten, Brutpflege …). Instinkte können hier verstanden werden als „Prägungen“ durch millionenfach wiederholte Wahrnehmungen in langen Zeiträumen von Situationen und Reaktionen innerhalb der Umwelt einer bestimmten Lebensform. Prägungen, die von Generation zu Generation wiederholt und verstärkt und schließlich in jahrtausendelangen Entwicklungen im „biologischen Gedächtnis“ einer Lebensform „eingeprägt“ und „konserviert“ wurden, so dass sie im Individuum und in bestimmten Situationen durch bestimmte Schlüsselreize wieder aktiviert werden können.

Es entstehen „Reiz-Reaktions-Muster“ die schon in den „Instinkten“ einer Art „vorprogrammiert“ sind. Das bedeutet, ein Hase z. B., der in einem Wald-Gebiet lebt, muss nicht jedesmal, wenn er einem Fuchs begegnet, neu überlegen, wie er nun reagieren soll, sondern der Reiz „Vorsicht Fuchs“ löst eine ganze Reaktionskette aus (Flucht und, wenn der Fuchs zu nahe kommt, Haken schlagen usw.) Solche Reiz-Reaktions-Ketten erleichtern das Leben und Überleben ungemein, weil sie sehr rasche Reaktionen ermöglichen. Und die sind nicht „schon immer“ vorgegeben oder „schon fertig“ vom Himmel gefallen, sondern bei der Evolution der Arten in Laufe von Jahrmillionen entstanden.

Irgendwelche Formen von einzelnen Wahrnehmungen und die Möglichkeit drauf zu reagieren haben fast alle Lebewesen (z. B. Pflanzen, die ihre Blätter dem Sonnenlicht zuwenden). Manche höher entwickelte Tiere können Einzelwahrnehmungen zueinander in Beziehung setzen und zu ganzen Wahrnehmungs-Bündeln (Erfahrungen) verbinden.

1.2 Verbindung von Einzelwahrnehmungen (Gegebenheiten und Vorgängen) zu Erfahrungen

Jedes Lebewesen macht einzelne Wahrnehmungen. Und es macht im Laufe der Zeit verschiedene Wahrnehmungen mit den gleichen „Dingen“. Der gleiche Stein kann einmal warm sein und einmal kalt, einmal nass und einmal trocken. Oder: Ein Baum grünt manchmal und blüht und manchmal trägt er Früchte und dann wieder ist er kahl und dürr, und trotzdem ist es der gleiche Baum. Solche Wahrnehmungen machen auch Menschen, aber eben nicht nur sie.

Jedes höher entwickelte Lebewesen wird seine Wahrnehmungen von bestimmten Phänomenen seiner Umwelt nach und nach zu einer ganzen „Wahrnehmungs-Sammlung“ bündeln und verdichten. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, in seinem Zentralnervensystem „Eindrücke“ von Wahrnehmungen für einige Zeit zu speichern und anzusammeln, also irgendeine Form von „Gedächtnis“. „Merkfähigkeit“ als Möglichkeit der Speicherung von Wahrnehmungs-Inhalten, und als Fähigkeit, verschiedene Wahrnehmungen (mit gleichen oder ähnlichen Dingen bzw. Vorgängen) zueinander in Beziehung zu setzen ist eine der umwälzendsten Entwicklungen des Lebens. Solche gespeicherten „Wahrnehmungsbündel“, die sich jeweils auf eine bestimmte „Sache“ beziehen, nennen wir „Erfahrungen“. Erfahrung hier verstanden als Ergebnis von einer Fülle von Wahrnehmungen, soweit sie sich auf die gleichen Dinge und Vorgänge unserer Umwelt beziehen (z. B. Erfahrungen mit dem Phänomen „Holz“ oder „Stein“ oder „Wasser“ oder „Feuer“).

Alle Wahrnehmungen, die wir im Laufe der Zeit im Zusammenhang mit einem bestimmten Phänomen unserer Umwelt gemacht haben, verbinden und strukturieren sich zu unserer „Erfahrung“ mit ihm und solche Erfahrungen können sehr unterschiedlich ausfallen: Eine Gruppe von Frühmenschen, die bei der Jagd von einem Steppenfeuer eingeschlossen wurde und dabei viele ihrer Kinder und ihrer Alten und auch einige ihrer geschicktesten Jäger verlor, hat einen anderen Erfahrungshintergrund mit dem Phänomen „Feuer“ als eine andere, die einen vom Blitz entzündeten Baum gefunden und es gelernt hatte, die Glut zu nähren und zu hüten, weil sie viele Speisen leichter verdaulich machte und weil die Flammen nachts wilde Tiere von ihrem Lager fernhielten. Diese unterschiedlichen Erfahrungen bedeuten nicht, dass da unterschiedliche Wirklichkeiten vorliegen müssen. Wir nehmen nur (bedingt durch unsere verschiedenen persönlichen Vor-Erfahrungen, Einstellungen und Sichtweisen) verschiedene Aspekte der gleichen Wirklichkeit wahr und ordnen sie auch verschieden in die Gesamtheit unserer Umwelt-Erfahrungen ein.

Solche selbst gelernten „Erfahrungen”, finden wir auch schon bei hochentwickelten Tieren. Ein Hund z. B. hört im Haus, wie draußen die Autotür seines „Herrchens” zufällt; und ohne das Auto oder den Herren selbst sehen zu können, weiß er, dass nun sein Herr nach Hause kommt, rennt zur Haustür und fängt an, freudig zu bellen (weil sein „Herrchen“ abends immer was Leckeres für ihn mitbringt). Diese Reaktion ist dem Hund nicht instinkthaft angeboren, sondern Ergebnis eines Lernprozesses, durch den er eine bestimmte Umwelt-Situation oder einen bestimmten Vorgang anhand einer bestimmten, sich ähnlich wiederholenden Wahrnehmung erkennen kann.

„Erfahrung ist also schon eine Zusammenfassung einer Vielzahl von Wahrnehmungen bezüglich eines bestimmten Phänomens der Umwelt mit ihrer persönlichen und emotionalen Bedeutung, soweit sie im Gedächtnis eines Lebewesens gespeichert sind. Unsere „Umwelt-Erfahrung“ wird gebildet und verändert im Verlauf der jeweils aktuellen und persönlichen Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungen in unserer Umwelt, nun aber mit der persönlichen Betroffenheit und Beeinflussung durch diese Wahrnehmungen und durch die Bündelung solcher Erfahrungen, die sich jeweils auf die gleiche „Sache“ beziehen.

Solche Erfahrungsbündel mit Bedeutungsgehalt und Handlungsoptionen sind eine wichtige Hilfe, wenn es darum geht, in je eigenen Umwelt sinnvoll und zielgerichtet zu handeln und in bestimmten, oft auch kritischen Situationen schnelle Entscheidungen zu treffen. Sie strukturieren die Welt der Einzelwahrnehmungen, indem sie diese zu komplexen und dynamischen Erfahrungs-Zusammenhängen ordnen. Solche Zusammenhänge enthalten zwei bedeutende Schwerpunkte:

Erfahrungen mit komplexen Umwelt-Situationen und

Erfahrungen mit dynamischen Umwelt-Veränderungen

1.2 Erfahrungen mit komplexen Umwelt-Situationen

Hier geht es zunächst um die Wahrnehmung und Unterscheidung von komplexen Umweltsituationen, die mit positiven oder negativen, angenehmen oder schmerzlichen Erfahrungen verbunden sind (z. B. Die Umweltsituation „Winter mit viel Schnee“ mit allen dazu gehörenden Einschränkungen und Gefahren für einen Feldhasen, oder die Umweltsituation „Trocken-Zeit in der afrikanischen Savanne“ für eine Elefantenherde), Solche Erfahrungen können eine Zeit lang im Gedächtnis behalten und in vergleichbaren Situationen (z. B. im nächsten Winter) wieder aktiviert werden und ermöglichen dann, zusammen mit instinktiven Verhaltensmustern, ein angepasstes Verhalten.

Auch für die Menschen der Früh-Zeit waren die Kenntnisse von ihrer Umwelt nicht nur eine Ansammlung von einzelnen Fakten, sondern diese erweiterten und verknüpften sich zu ganzen Umwelt-Szenarien, die jede ihre eigenen Bedeutungen und Herausforderungen beinhalteten und für die man jeweils besondere Vorgehensweisen und die Zusammenarbeit aller brauchte. Z. B. das Umwelt-Szenarium „Herbst mit viel Früchten und Samen“ oder „Umzug in ein neues Jagdrevier“, oder „gemeinsame Jagd eines Bären“ oder „Geburt eines Kindes“ oder „Tod eines Sippenangehörigen“.

Ihre Wahrnehmung in solchen komplexen Umweltsituationen verdichteten sich jeweils zu einem ganzen Erfahrungsbündel, das sich mit der Zeit durch sich verändernde, ergänzende, aber manchmal auch widersprüchliche Wahrnehmungen zu einem ganzen Erfahrungs-Komplex mit sachlicher und emotionaler Bedeutsamkeit verband. Weil nun die Reaktionen der Menschen weniger an instinktive Reaktionsmuster gebunden waren, konnten sie in veränderten Situationen auch schneller mit jeweils angepassten Verhaltenskonzepten darauf reagieren, als die meisten Tierarten.

Erst durch die Verknüpfung verschiedener solcher Umwelt-Situationen, die sich im Laufe der Zeit veränderten und die jene Menschen vor immer neue Herausforderungen stellten, die aber gleichzeitig in angepasster Form einen Raum von Vertrautheit und Stabilität auch in neuer Umgebung vermittelten, ja, die sogar  sogar ein gewisses Maß an Sicherheit auch im Unbekannten boten, konnten sich Menschen dauerhaft behaupten und sich auch in immer neue, unbekannte Gebiete wagen.

1.3 Erfahrungen mit dynamischen Umwelt-Veränderungen

Kehren wir noch einmal zu den „Menschen in der Höhle am Bach“ zurück, von denen schon am Anfang dieses Beitrags „Welt-Bewusstsein“ die Rede war:

Der Frühling

Wie sehr hatten sie alle darauf gewartet! Nun endlich begann das Eis auf dem Bach zu tauen, die Schneedecke zeigte schon Lücken in der Ebene am See.

Es war ein langer und harter Winter gewesen. Die Vorräte an getrockneten Früchten, Pilzen und haltbaren Samen, die sie im Herbst gesammelt und im hinteren, dunklen und kühlen Teil der Höhle aufbewahrt hatten, war längst aufgebraucht. Sie lebten nun vor allem von dem, was die Männer von der Jagd nach Hause brachten. Aber die mussten nun immer weitere Streifzüge machen, um noch jagbare Tiere zu finden. Manchmal fanden die Frauen noch essbare Wurzeln und Reste von Blattgemüse, die sie aus dem Schnee gruben. Der Hunger war schon seit zwei Vollmonden ständiger Begleiter der Menschen in der Höhle am Bach.

Nun aber war das Ärgste überstanden. Erst gestern hatte eine Gruppe Frauen gar nicht so weit entfernt einen großen Baum am Bach gefunden der schon erste zarte Knospen getrieben hatte und sie hatten mehrere Beutel voll davon gepflückt. Diese Knospen konnte man auf einer heißen Steinplatte über dem Feuer rösten und sie waren dann wohlschmeckend und bekömmlich, so dass sie sogar die kleineren Kinder essen konnten. Das war ein unerwartetes Fest! Denn die Menschen wussten aus Erfahrung: Der zu Ende gehende Winter war die kritischste Zeit des Jahres, weil die Vorräte aufgebraucht waren und die Jagd immer spärlichere Ergebnisse brachte.

Dann aber brach der Frühling mit Macht herein. Ein warmer Wind ließ das Eis schmelzen und den Schnee tauen. Überall am Bach und an der Sonnenseite des Berghangs trieben frische Pflanzen heraus. Und am Ufer des Sees konnte man schon kleine Muscheln finden. Es war eine Lust zu leben! Und die Kinder und sogar die jüngeren der Erwachsenen begannen zu spielen und herumzutollen. Aber die Älteren trieben sie immer wieder an, Essbares zu suchen und neue Vorräte anzulegen, denn sie wussten aus Erfahrung: Das war noch nicht der Sommer, es würden noch genug kalte und entbehrungsreiche Tage kommen

Erfahrungen mit komplexen Umwelt-Situationen und dynamischen Umwelt-Veränderungen entstehen nicht durch einmalige Erlebnisse, sondern durch immer wiederholte Wahrnehmungen von Situationen und Veränderungen im Laufe der Zeit. Erst die Wiederholungen, die einerseits frühere Erfahrungen bestätigten, gleichzeitig aber immer auch gewisse Veränderungen hervorbrachten, trieb weitergehende Lerneffekte voran. Das ist auch heute noch so. Es entstehen Kreisläufe von wahrnehmen und verstehen (dessen, was man wahrnimmt), in denen sowohl unser Wahrnehmen als auch unser Verstehen immer mehr erweitert und vertieft wird (siehe dazu zum Thema „Der Sturm der Erkenntnis“ den Beitrag „Der Kreislauf des Lernens“). Und so konnten Menschen-Gemeinschaften schon vor Jahrtausenden sich auf ganz unterschiedliche Umweltbedingungen einlassen, sich an Klimaveränderungen anpassen oder in ungewohnte Klimazonen auswandern.

Freilich sind auch Tiere optimal an bestimme Klimazonen angepasst. Aber eben nur an bestimmte Klimazonen. Ein Eisbär wird in der afrikanischen Savanne nicht überleben; ein Löwe in der Eiswelt der Polargebiete auch nicht. Der Mensch aber konnte schon vor Jahrtausenden sowohl die eine wie die andere Klimazone erobern und besiedeln. Das hatte natürlich auch technische Voraussetzungen, etwa die Beherrschung des Feuers. Entscheidend aber war die gedankliche Vorwegnahme von Entwicklungen und periodischen Veränderungen, durch die man Trocken- oder Kälteperioden vorsorgend überstehen konnte. So sammelten die Frauen des Familienklans Vorräte, die sie in der Höhle aufbewahrten und entwickelten nach und nach Verfahren, auch verderbliche Nahrung (etwa durch Räuchern, Trocknen oder Fermentieren) für längere Zeit haltbar zu machen.

Ich fasse das unter „Weltwahrnehmung“ Gesagte noch einmal zusammen und setze es zu den folgenden Kapiteln „Weltverständnis“, „Welterkenntnis“ und „Welt-Bewusstsein“ in Beziehung:

Die Weltwahrnehmung des Menschen und seine Reaktion auf bestimmte Umweltreize stellt ein in der ganzen Schöpfung einmaliges Phänomen dar. Dabei geht es nicht in erster Linie um besondere Fähigkeiten der Wahrnehmung. Ein Falke kann viel schärfer sehen, ein Hund viel genauer und differenzierter riechen als ein Mensch. Es geht dabei vielmehr um eine besondere Form der Verarbeitung des Wahrgenommenen.

Ein Vogel kann differenzierte Wahrnehmungen machen: Es ist hell und er geht Futter suchen. Er sieht: Da krabbelt etwas, das entspricht seinem Bild von Fressbarem und er frisst es. Jeder Vogel sieht die Sonne aufgehen und untergehen und wieder aufgehen. Aber er ist sich nicht bewusst, dass es deshalb hell ist, weil die Sonne aufgegangen ist, oder dass es dunkel ist, weil die Sonne unterging (das wäre schon ein Stück „Weltverständnis“, siehe das folgende Kapitel). Er sieht, es ist hell und er geht auf Futtersuche; es wird dunkel und er sucht sich einen Schlafplatz.

Er macht sich auch keine Gedanken darüber, ob die Sonne, die am Morgen aufgeht, die gleiche ist, die am vergangenen Abend untergegangen war. Oder ob die Sonne um die Erde kreist oder die Erde um die Sonne (das wäre schon ein Stück „Welterkenntnis“, die mit wissenschaftlichen Methoden erlangt und erweitert wird, siehe weiter unten).

Und erst recht denkt er nicht darüber nach, wo denn die Sonne weilte, als es in der Nacht dunkel war. Die Mythologien der Menschen-Völker aber sind voll von phantasievollen Erzählungen, die das Phänomen der aufgehenden und untergehenden Sonne irgendwie zu erklären versuchen (z. B. im alten Ägypten, da sah man die Welt als Scheibe mit dem Himmelsgewölbe darüber, das aus dem Leib der Göttin Nut gebildet war. Tag und Nacht entstanden dadurch, dass Nut jeden Abend die Sonne fraß und verschluckte und sie jeden Morgen die Sonne neu gebar). Solche Mythologien versuchen schon ein Stück „Weltbewusstsein“ auszubilden, in dem sich die eigenen Erfahrungen, Verständnisse und Erkenntnisse (und alle durch Kommunikation aufgenommenen Inhalte) zu einer umfassenden „Welt-Schau“ verdichten. Das wird vor allem im Beitrag 1-10-3 „Sinnbewusstsein“ eine entscheidende Rolle spielen.

Jetzt werden wir erst einmal sehen, wie aus einer erweiterten Welt-Wahrnehmung nach und nach ein zusammenhängendes Weltverständnis werden konnte.

2 Weltverständnis,

Wir können davon ausgehen, dass die Wahrnehmung des Menschen sich ähnlich entwickelt hat wie bei anderen Erscheinungsformen des Lebens auch: Die Menschen nahmen (wie die meisten Tiere) Helligkeit und Dunkelheit wahr, Wärme und Kälte, Mangel und Überfluss … Aber sie hatten irgendwann auch aus der Wiederholung immer gleicher Vorgänge gelernt, dass die Phase der Helligkeit vom Stand der Sonne abhing und dann konnten sie schon, wenn es noch hell war, erkennen, dass es bald dunkel werden würde, weil sich die Sonne dem Horizont näherte. So lernten sie nach und nach, den gegenwärtigen Stand der Gegebenheiten gedanklich in die Zukunft hinein verlängern und bestimmte immer wiederkehrende Entwicklungen voraussehen.

Das können viele Tierarten auch. Ihre Instinktausstattung, die jeweils an eine  ganz bestimmte Umwelt angepasst ist, ermöglicht ihnen z. B. jahreszeitliche Veränderungen vorwegzunehmen: Zugvögel fliegen in wärmere Gegenden, andere Tiere legen sich einen Wintervorrat an Nahrung an usw. Aber eine Instinkt-gesteuerte Anpassung muss noch nicht mit einem Verstehen der Dinge und Vorgänge in der Umwelt verbunden sein.

2.1 Verstehen lernen

Bei den Menschen war diese Anpassung nicht auf evolutionäre Entwicklungs-Prozesse und instinktive Verhaltens-Muster angewiesen, deren Entstehung lange Zeiträume in Anspruch nimmt, sondern basierte auf individuellen und sozialen Lernprozessen, die sehr rasche Umstellungen ermöglichten.

Wenn z.B. man aus der Erfahrung weiß, dass nach dem Winter wieder der Frühling und der Sommer kommen wird (und an welchen Merkmalen man das schon im voraus erkennen kann), oder dass nach der Trockenzeit wieder der Regen kommt, dann kann man sich darauf einrichten, kann Vorräte sammeln, Brunnen graben …

Menschen konnten nach und nach und mit der Zeit immer bewusster (rückblickend) ihre „Welt“ als etwas in der Vergangenheit Gewordenes verstehen und (vorausschauend) als etwas, das sich aus der Gegenwart heraus in die Zukunft weiterentwickelt. Und das eröffnete ihnen völlig neue Räume ihres „Welt-Verstehens“ als geistiges „Werkzeug“ zur Daseinsbewältigung.

So konnten schon sehr frühe Menschen-Gemeinschaften (z. B. die Bewohner in der Gegend von Stonehenge in England) so unglaublich komplexe und abstrakte Konzepte entwickeln, wie es ein Sonnen- (oder Mond-) Kalender darstellt, an dem man die Jahreszeiten genau ablesen konnte: Ein theoretisch (wenn auch auf Grund von Erfahrungen) entwickeltes, abstraktes Konzept, das dann praktisch auch als grandioses Baudenkmal verwirklicht wurde.

Der Steinkreis von Stonehenge als funktionierender „Kalender“ war durch Wahrnehmung allein nicht zu verwirklichen. Dazu brauchte man ein tiefes Verständnis der Zusammenhänge zwischen den jahreszeitlichen Veränderungen der Umwelt und Regel-mäßigen Veränderungen im Sonnenstand (also ein Verständnis von „gleichbleibend wiederkehrenden Veränderungen“, die man in „Regeln“ beschreiben kann). So begann ein Welt-Bewusstsein zu wachsen auf der Grundlage von Wahrnehmungen und Erfahrungen hin zu einem immer bewusster werdenden Verstehen. Allerdings hätte dieses anfängliche Bewusst-Werden nicht gut wachsen können, wenn es immer in der Vereinzelung der Individuen geblieben wäre. Erst der Austausch, die Ergänzung und der Abgleich der Erfahrungen vieler Einzelner innerhalb einer Lebens– und Erfahrungs-Gemeinschaft hätte dies möglich gemacht. Aber dazu wäre die Herausbildung eines Kommunikationsmittels notwendig, das es in der Jahr-Millionen der Entwicklungsgeschichte des Lebens noch nie gegeben hatte: Die Sprache.

2.2 Denken und sprechen

Die alles entscheidende Voraussetzung für die Sonderstellung des Menschen in der gesamten „Lebens-Welt“ (Biosphäre) der Erde war die Entwicklung von Sprachen. Darauf will ich im Folgenden etwas genauer eingehen.

2.2.1 Begriffsbildung

Beginnen wir wieder mit einer kleinen Erzählung:

Eines Tages wurden einige der Frauen aus dem Clan der Höhlenbewohner, die mit einer ganzen Schar kleiner Kinder beim Beerensuchen waren, von einem heftigen Regenschauer überrascht. Unter einem großen Baum suchten sie Schutz. Da es Sommer war und der Regen warm, sprangen die kleineren Kinder, die sowieso nichts anhatten, im Regen herum, versuchten die Tropfen mit der hohlen Hand aufzufangen und das Rauschen des Regens nachzuahmen: „Sss – sss – sss“.

Ein paar Tage später spielten die Kinder am Bach, spritzten sich gegenseitig nass, quietschten vor Vergnügen und warfen Hände voll Wasser in die Luft, sodass er wie ein Regen auf die Erde zurückfiel. „Sss – sss – sss“ machten sie dabei. Die Frauen, die ihnen zusahen, lachten über diesen selbst gemachten „Regen“. Als dann die etwas größeren Kinder mit den Männern zum Fischen an den See gehen durften, war das nicht nur zum Spaß. Sie mussten lange ganz still sitzen, um die Fische nicht zu vertreiben und den Männern zusehen, wie sie, bis zu den Hüften im Wasser stehend, regungslos warteten, bis ein großer Fisch in die Nähe kam, den sie mit ihren langen, dünnen Fisch-Speeren aufspießen konnten. Als dann die Fischjagd vorbei war, tollten sie um so übermütiger im See, lachten und kreischten, ließen das Wasser über sich „regnen“ und machten „Sss – sss – sss“ dazu. Auch die Männer lachten über den selbst gemachten „Regen“ der Kinder.

Niemand hatte es bemerkt oder gar bewusst so gewollt. Aber seit diesem Sommer wurde das Wasser immer so „genannt“. Ob es als Regen vom Himmel fiel, ob es sprudelnd und plätschernd über die Steine im Bach floss, ob es still und unbewegt in See stand, diese klare, kühle Nass war „Sss“. Und wenn ein Kind oder auch ein Erwachsener krank in der Höhle lag und Durst hatte, dann sagte der Kranke „Sss – sss“ und dann brachte ihm einer der Erwachsenen frisches Wasser vom Bach in einem Eimer von gegerbter Tierhaut.

Etwas ganz Neues, Entscheidendes, etwas die Geschichte der Menschheit völlig Veränderndes war geschehen: Die Menschen konnten etwas, was sie von ihrer Position aus gar nicht sehen konnten, sprachlich so vergegenwärtigen, dass sie darüber kommunizieren konnten: „Ich brauche Wasser“. Das veränderte ihre Sicht auf ihre Umwelt grundlegend.

Mit Hilfe der Sprache konnte man nun Dinge und Vorgänge, die zeitlich oder räumlich weit entfernt lagen, für die jeweiligen „Gesprächsteilnehmer” vergegenwärtigen. Indem man eine Person, einen Gegenstand oder einen Vorgang „beim Namen nannte”, wurden sie für alle Gesprächsteilnehmer, die diese Person, diesen Gegenstand oder diesen Vorgang kannten, präsent. Das „Wort” wurde zum Repräsentanten der Wirklichkeit. Alle Beteiligten wussten nun, wovon die Rede war, auch wenn der „Gesprächsgegenstand” faktisch nicht „persönlich” anwesend war. Sprache ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung eines Denkens in zunehmender Abstraktion. Die entstehenden Sprachen ermöglichten es den Menschen räumlich oder zeitlich Entferntes zu vergegenwärtigen und sich über das Vergegenwärtigte auszutauschen, obwohl es ja in Wirklichkeit gar nicht „da“ war. Jede Art abstrahierenden Denkens setzt Sprache voraus.

Die allmähliche Herausbildung einer Sprache über viele Generationen und Jahrhunderte hinweg hatte noch weitergehende Folgen: Für die Menschen in dieser Gruppe erschloss sich nach und nach die Umwelt nun in ganz neuer Weise: Sie sahen den großen Baum, der am Ufer des Baches vor ihrer Wohnhöhle stand, nicht mehr nur als diesen einzelnen Baum, der im Sommer Schatten bot, sondern sie erkannten in ihm ein Exemplar der Kategorie „Baum“, von denen es viele gab, ganz verschieden gestaltet, aber doch alle mit den wesentlichen Merkmalen eines Baumes ausgestattet: Stamm und Wurzeln, Äste und Blätter. Wenn sie einen Baum „Baum“ nannten, dann hatten die Menschen Tausende von Einzelerscheinungen in einem Begriff zusammengefasst. Und so stand nun der Begriff „Baum“ (oder „Berg“, oder „Wasser“ oder „Tier, das man jagen kann und das gutes Fleisch liefert“) auch für eine deutlich vereinfachte Kommunikation zur Verfügung. Die Menschen unterschieden nun „Erde“ von „Stein“, auch wenn die Erde mal braun und mal rot, mal nass und matschig, mal trocken und staubig war, und der Stein mal hell und mal dunkel, mal glatt und mal kantig.

Sie hatten erkannt, dass es nicht nur viele einzelne Dinge gab, sondern dass man jeweils bestimmte Dinge anhand gemeinsamer Merkmale sprachlich in Gruppen zusammenfassen konnte. Und das veränderte das Weltverständnis der Menschheit.

Indem man den Baum „Baum“ nannte, konnte man tausend Einzelerscheinungen seiner Umwelt in einem einzigen Begriff zusammenfassen und man unterschied gleichzeitig das, was man „Baum“ nannte, von tausend anderen Erscheinungen im Wald, die eben nicht „Baum“ waren (sondern z. B. „Reh“ oder „Blume“ oder „Vogel“). Ja, man konnte sogar Begriffe für völlig neue Kategorien finden, die in der Natur gar nicht vorhanden waren: Wenn man z. B. ein Wort fand für „jagbares Tier“ oder „essbare Pflanze“, dann hatte man Kategorien entwickelt, die nicht in den Dingen selbst begründet waren, z. B. in ihrer biologischen Eigenart, sondern die ausschließlich in der Bedeutung begründet waren, die man selbst den Dingen beimaß.

Gewiss war es ein großer Moment in der Entwicklung der Menschen, als einer von ihnen zum ersten Mal einen Baum mit einer Lautfolge bezeichnete, die er auch auf andere Bäume anwendete und Erde und Stein mit unterschiedlichen „Namen” nannte, im Wissen, dass Erde und Stein ganz verschiedene Eigenschaften haben können, aber eben doch auch gemeinsame Merkmale, durch die man sie der einen oder anderen Kategorie zuordnen konnte. Und noch größer und bedeutsamer war der Augenblick, als zum ersten Mal ein Mensch einen Laut-Ausdruck verwendete für etwas, was man gar nicht direkt sehen, sondern nur an seinen Auswirkungen erkennen konnte: die Luft zum Beispiel, die man nach raschem Lauf spürbar einatmete, die einem als Wind ins Gesicht blies und die als Sturm selbst starke Bäume entwurzelte.

So lernten solche Gruppen von Menschen nicht nur die verwirrende Vielfalt der Dinge selbst wahrzunehmen, sondern auch, sie in ein einfaches Schema von Kategorien einzuordnen, das ihnen half, vieles rascher zu erkennen und besser zu verstehen. Voraussetzung dafür war die gleichzeitige Entwicklung von Erkenntnisprozessen und Sprache  (z. B. die Entwicklung der Erkenntnis, dass es viele verschiedene Pflanzen gibt, dass aber einige davon einem gemeinsamen Grundschema  zugehören (Wurzel – Stamm – Äste – Blätter), so dass man sie entsprechend auch einem sprachlichen Grundschema zuordnen konnte (z. B. „Baum“ oder englisch „tree“ oder französisch „arbre“ usw.).

Nur durch die sprachliche Fixierung von Wahrnehmungen in Begriffen, die für alle Beteiligten die gleiche Bedeutung hatten, konnte die Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten und Kategorien festgehalten und für menschliches Verständnis und zwischenmenschliche Kommunikation verfügbar gemacht werden.

Das gilt nicht nur für die frühen Entwicklungen der Sprache und des Denkens, sondern auch für ganz moderne Vorgänge. Niemand, auch kein Wissenschaftler (z. B. eine Atomphysikerin), hat je ein Proton „gesehen“ oder ein Elektron. Und trotzdem können die Wissenschaftler die (indirekten) Ergebnisse ihrer Beobachtungen, Messungen und Berechnungen in zusammenhängenden Vorstellungen darstellen und miteinander über sie reden, und zwar deshalb, weil sie für die einzelnen Phänomene und ihre Zusammenhänge sprachliche Begriffe bildeten und verknüpften. So entstanden Sprach-Bilder von „Atomen“ und „Atomkernen“ und „Elektronen-Schalen“ (die man dann auch visuell auf Schautafeln farbig und anschaulich darstellen kann), obwohl alle Beteiligten wissen: So, wie sie da aufgemalt sind, so sehen „Atome“ mit ihren „Kernen“ und „Schalen“ ganz gewiss nicht aus (wenn man sie denn direkt sichtbar machen könnte). Aber die sprachlichen Begriffe und die Anschauungen, die wir damit verbinden, die erlauben uns, mit den Phänomenen umzugehen, sie zu berechnen, über sie zu kommunizieren und sie für unsere Zwecke verfügbar zu machen.

Dabei machten die Menschen von der Höhle am Bach noch keinen Unterschied zwischen den konkreten Bäumen und dem Begriff „Baum“, den sie für alle Bäume anwendeten. Alle Bäume hießen „Baum“, auch der große Baum am Bach vor ihrer Höhle. Nur bei einer Art von Bäumen machte sie eine Ausnahme: Diese Art von Bäumen trug im Herbst essbare und wohlschmeckende Früchte, die sie „Mi“ nannten; solche Bäume nannten sie „Mi-Baum“.

Bei den Menschen allerdings gab es schon individuelle Namen. Bei den Erwachsenen jedenfalls, bei den Kindern war das nicht üblich. Sie hießen alle „Kind“, allenfalls mit einem Zusatz wie bei jenem Mädchen, dass im Winter geboren worden war und nur mühsam über ihre ersten Lebensmonate gebracht werden konnte. Sie hieß „Schnee-Kind“. Sonst unterschied man nur allgemein zwischen Jungen („Mann-Kind“) und Mädchen („Frau-Kind“). Erst wenn die Heranwachsenden geschlechtsreif wurden, bekamen sie in einer großen Zeremonie, an der alle Gruppenmitglieder teilnahmen und bei der sie in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen wurden, einen eigenen „Namen“.

 

Durch die Zuordnung von individuellen Namen und allgemeinen Begriffen zu den konkreten Erscheinungen der Natur und der menschlichen Gemeinschaft konnte man nun viel gezielter und verständlicher miteinander über eben diese Erscheinungen reden. Und so entstanden auch durch immer weitergehende sprachliche Kommunikation auch immer intensivere Beziehungen zwischen den Gruppenangehörigen (die soziale Kommunikation der Menschen durch Sprache ist zwar nicht so körperbetont wie das gegenseitige Lausen der Affen, aber doch vielfältiger und differenzierter.)

Die gemeinsame Erfahrungsgrundlage ermöglichte den Mitgliedern einer frühen Horde von Menschen auch eine Art von Kommunikation, durch die sie nicht nur Dinge benennen, sondern auch Erfahrungen austauschen und mit der ganzen Gruppe teilen konnten. Hatte z. B. eine der Frauen aus einer Gruppe, die essbare Pflanzen sammelte, die Erfahrung gemacht, dass der Verzehr einer bestimmten Pflanzen-Art heftige Bauchschmerzen verursachte, so konn­te sie die anderen durch einen furchterregenden Abwehrlaut davor warnen, die gleiche Pflanze zu essen. Wenn dann trotzdem irgendwann ein anderes Mitglied der Gruppe die gleiche Erfahrung machte, so wurde das Urteil bestätigt und gefestigt: „Diese Pflanze ist nicht gut zu essen.“ So entstand im Austausch individueller Erfahrungen ein gemeinsames Wissen, das, versprachlicht und im Gedächtnis bewahrt, noch jahrelang zur Verfügung stand, ja das sogar an nächste Generationen weitergegeben werden konnte.

Später, als die sprachlichen Verständigungsmöglichkeiten schon weiter ausdifferenziert waren, konnte dieses Wissen erweitert und vertieft werden. Nun gab es die „weisen Frauen“, die nicht nur viele Pflanzen kannten, sondern die auch wussten, wie man sie zubereiten musste, damit sie nahrhaft und bekömmlich waren, die auch wussten, welche Pflanzenteile zu einem Brei zerstampft oder zu einem Tee gekocht bei bestimmten Krankheiten oder Verletzungen Linderung brachten. Vielleicht gab es auch einen „Rat der alten Männer“, der die Geschicke des Stammes in den Gefährdungen durch Wetter und Jahreszeiten, durch Kämpfe und Hungersnöte führte. Bei diesen Männern umfasste das besondere Wissen vielleicht spezielle Techniken beim Bau und bei der Befestigung der Wohnstätte, erprobte Verfahren bei der Bewältigung von Kälte, Dürre oder Überschwemmung, bewährte Vorgehensweisen und erfolgversprechende Strategien bei der Jagd nach bestimmten Tieren, erprobte Taktiken beim Kampf gegen zahlenmäßig überlegene Feinde … Solche „Wissenden“ hatten hohes Ansehen in der Gemeinschaft und sie gaben ihr Wissen sorgsam an die nächste Generation weiter. Vielleicht ergaben sich auch schon Gelegenheiten, wo die „Weisen“ verschiedener Familienklans zusammenkamen und ihr Wissen austauschten, sodass nun die Erfahrungen einer viel größeren Anzahl von Menschen gebündelt und anwendbar wurden. Das „Welt-Wissen der Menschheit“ konnte nur deshalb über Jahrtausende aufgebaut und vermehrt werden, weil es versprachlicht zur Verfügung stand. Sonst wäre es beschränkt geblieben auf das, was man durch vormachen und nachmachen weitergeben kann.

So wurden Einzelerfahrungen, deren subjektive Einordnung, emotionale Berührung und praktische Bewertung zunächst noch sehr unterschiedlich ausfallen konnten, im Austausch und Vergleich ähnlicher Erfahrungen einer Vielzahl von Menschen nach und nach immer mehr objektiviert. Es entstand ein Bild von der Welt, ihren Gegenständen und Kategorien, ihren Ereignissen und Entwicklungen, das zumindest in der jeweiligen Gruppe zur gültigen „Welt–Anschauung“ wurde. Das war sicher noch kein sprachlich ausformuliertes Denk-System mit differenzierten Deutungsmustern und Bewertungen, aber doch schon ein gemeinsames Netzwerk von Begriffen und Verknüpfungen für unterschiedliche Erfahrungen, die für den Einzelnen ebenso wie für die Gemeinschaft von Bedeutung waren und das innerhalb der Gruppe ein gemeinsames Verstehen und Handeln ermöglichte. Und: Das den Prozess der Bewusst-Werdung wieder ein Stück weiter voranbrachte.

2.2.2 Entwicklung des Denkens und Sprechens

Im Folgenden werden einige Schritte der Sprachbildung (im Zusammenhang mit der Entwicklung des Denkens) als grobe Übersicht genannt:

  • Nennung einzelner Personen oder Dinge mit einer Lautfolge als deren „Namen“ (z. B. unsere Höhle heißt „Hoju“).
  • Vergegenwärtigung von Dingen, die zeitlich oder räumlich entfernt sind durch nennen ihrer „Namen“. So konnte eine Gruppe von Jägern, die mehr als eine Stunde schnellen Laufes von ihrer Wohnhöhle entfernt waren, sich darüber verständigen, dass es nun Zeit sei zu ihrer Höhle zurückzukehren, weil es bald dunkel werden würde, indem ihr Anführer das Namen-Wort „Hoju“ für ihre Höhle aussprach und die anderen zustimmend nickten.
  • Zusammenfassung von einzelnen Phänomenen der Umwelt (von denen es sehr viele gab, die aber jeweils durch gemeinsame Merkmale als zusammengehörig erkannt werden konnten) durch Begriffs-Bildung (Baum, Wasser, Berg, Mann, Frau, Kind …).
  • Sprachliche Negierung: Die Fähigkeit, etwas beim Namen zu nennen, was nicht da ist. (In der Trockenheit: „Kein Regen“ oder in friedlichen Zeiten „keine Feinde“ oder in Mangel-Zeiten „kein Fleisch“). Dieses „nicht“ oder „kein“ konnte anfangs auch durch eine verneinende Geste verbunden mit dem „Namen-Wort“ ausgedrückt werden. Aber es war doch eine völlig neue Stufe in der Entwicklung des Denkens und Sprechens, etwas zu benennen, was nicht vorhanden ist.
  • Bildung von Begriffen für die Eigenschaften von Dingen (groß oder klein, leicht oder schwer, stark oder schwach, essbar oder giftig …) und die Verbindung von Gegenständen mit Eigenschaften: Baum – groß, Stein – schwer …
  • Bildung von Begriffen für Vorgänge oder Tätigkeiten (laufen, springen, schwimmen, fliegen, schreien …) und die Verbindung von „Dingen“ mit Tätigkeiten: Männer – jagen, Kinder – spielen, Vögel – fliegen …
  • Bildung von Ablauf-Reihen: Erst und dann und dann … (Erst sammeln wir Wurzeln und Pilze, dann waschen wir sie im Bach, dann trocknen wir sie in der Sonne.)
  • Herstellung von wenn-dann-Beziehungen: Wenn die Sonne untergeht, dann gehen wir zurück zur Höhle. Wenn Vögel in Scharen wegfliegen, dann wird es bald Winter.
  • Damit zusammenhängend: Verlängern von gegenwärtigen Situationen oder Entwicklungen in die Zukunft hinein: „Es ziehen Wolken auf, bald wird es regnen“ oder „Wir haben nichts mehr zu essen. Morgen werden wir zu einem mehrtägigen Jagdzug aufbrechen“.
  • Herstellung von weil-deshalb-Beziehungen: „Weil das Kind diese Beeren gegessen hat, deshalb hat es jetzt Bauchweh.“ Oder: „Weil wir im Herbst nicht genug Vorräte angelegt haben, deshalb müssen wir jetzt hungern.“ Das Erkennen und Aussprechen von weil-deshalb-Beziehungen ist ein ganz wichtiger Vorgang, denn dadurch wird es möglich, lebenswichtige Folgerungen abzuleiten: „Kinder dürfen diese Beeren nicht essen.“ Oder: „Im nächsten Herbst müssen wir mehr Vorräte anlegen.“
  • Bildung von Begriffen für Realitäten, die keine sichtbaren oder anfassbaren Gegenstände sind, z. B. für „Nacht“ oder „Kälte“ oder „Angst“ oder „Traurigkeit“ .
  • Bildung von Begriffen, die eine Vorstellung von „ Zeit“ ermöglichen: „Heute“ oder „Gestern“ oder „Übermorgen“; oder die Vorstellungen von „Zeitabläufen“ ermöglichen: „Jetzt“ oder „später“ oder „vorhin“. Ohne sprachliche Zeit-Begriffe hätten wir bis heute keine Zeit-Vorstellungen, denn „Zeit“ ist ein völlig abstrakter „Gegenstand“, etwas was man nicht sehen, hören, schmecken, fühlen, anfassen … kann, etwas, was man nur dann denken kann, wenn man sprachliche Begriffe dafür hat.
  • Bildung von Sammelbegriffen für eine ganze Fülle von verschiedenen Erscheinungen, die in einem einzigen Wort zusammengefasst werden, z. B. „Sommer“ (mit all seinen Erscheinungsweisen und Erlebnissen, Freuden und Leiden) oder „Winter“ oder „Frieden“ oder „Krieg“ …
  • Ausdrücken von hypothetischen Erwägungen: Was wäre, wenn? „Was wäre, wenn wir aus einigen Baumstämmen eine Brücke über den Bach bauen? Dann könnten wir doch in der kühleren Jahreszeit trockenen Fußes auf die andere Seite gelangen“.
  • Erzählen von zeitlich zurückliegenden Ereignissen (eine Gruppe von Männern und Frauen kommt von der Jagd zurück und sie berichten von ihren Erlebnissen und zeigen ihre Beute vor).
  • Erzählen von Phantasie-Geschichten, die von Dingen erzählen, die es gar nicht gibt und von Ereignissen, die so gar nicht stattgefunden haben. Homer, der große Erzähler des klassischen Altertums konnte nur deshalb schon vor Jahrtausenden seine großartigen (größtenteils erfundenen) Geschichten erzählen, weil die Menschen schon Jahrtausende vor ihm immer wieder erfundene Geschichten erzählten. (Der mindestens 35 000 Jahre alte „Löwen-Mensch“ aus Mammut-Elfenbein, den man in einer Höhle der Schwäbischen Alb gefunden hat, war ja nicht isoliertes „Schnitz-Kunstwerk“, sondern Teil einer erfundenen Geschichte von Löwen-Menschen, denn wirkliche Löwen-Menschen gab es auch vor 35 000 Jahren nicht).
  • Erzählen von inneren Erfahrungen: Von Träumen, Ängsten, Hoffnungen …
  • Erzählen von Sinn-Geschichten, die besonders eindrucksvolle Erfahrungen in einen Bedeutungszusammenhang zu stellen versuchen („Es hat schon so lange nicht geregnet. Ich denke, die Sonne ist uns böse, deshalb verdorrt sie unser Land und hält den Regen ab; was haben wir falsch gemacht?“).

2.2.3 Gemeinsame Entwicklung von Sprache und Denken

Die Sprache und das Denken der Menschen entwickelten sich in gegenseitigen Wechselwirkungen: Die Entwicklung des Denkens ermöglichte und förderte die Entwicklung einer Sprache und die Entwicklung der Sprache erweiterte und strukturierte die Entwicklung des Denkens. Nicht in erster Linie anatomische Veränderungen (die Entwicklung des Zungenbeins und des Kehlkopfs beim Menschen, die freilich für eine differenzierte Lautbildung nötig waren), sondern die gegenseitige Befruchtung von Denken und Sprechen führte zur Herausbildung des Menschen als sprachfähiges Wesen.

Die denkende Auseinandersetzung mit den Erscheinungen der Umwelt führte zu immer neuen und differenzierteren sprachlichen Ausdrucksformen. Und die Entwicklung immer neuer sprachlicher Ausdrucksformen förderten und strukturierten immer weitergehende Formen des Denkens. Das „denkende Sprechen“ und das „sprechende Denken“ treiben den „Wirbel-Sturm der Erkenntnis“ zu immer schnelleren Umdrehungen. Und die gemeinsamen Ergebnisse der Entwicklung des Denkens und des Sprechens bei Menschen war Voraussetzung dafür, dass so etwas wie ein „Bewusstsein“ entstehen und wachsen konnte.

2.2.4 Das Innenbild der Außenwelt

Wir kommen nicht aus ohne eine Vorstellung von dem, was in unserer Umwelt vor sich geht, welche Auswirkungen das auf uns haben könnte und welche Herausforderungen das für uns enthält. Das gilt für den Anführer einer Gruppe von Buschjägern auf der Fährte einer Gazelle ebenso, wie für den Vorstandsvorsitzenden eines Industriekonzerns im 21. Jahrhundert bei Verkaufsverhandlungen mit potenten Kunden. Seitdem sich Menschen Lebens- und Handlungsräume erschlossen haben, die nicht mehr mit der vorgegebenen Instinkt-Ausstattung bewältigt werden können, sind sie darauf angewiesen, ihre Lebensweisen und Handlungsoptionen durch Wissen und Erfahrung zu begründen. Wir haben und wir brauchen für unser Leben ein einigermaßen stimmiges Welt-Verständnis (und Selbstverständnis, siehe im nächsten Beitrag) um in den alltäglichen Situationen unseres Daseins angemessen reagieren und zielgerichtet handeln zu können.

Die Höchstform solcher „Welt-Wahrnehmung“ und solchen „Welt-Verstehens“ ist die Fähigkeit von Menschen, die Gesamtheit ihrer Umwelterfahrungen und ihres Umweltverstehens in Form einer zusammenfassenden „Weltverinnerlichung“ in sich aufzunehmen, das heißt, ihre Einzelerfahrungen so in Beziehung zueinander zu setzen, sie so zu ordnen und zu werten, dass sie diese wie in einem riesigen Puzzlespiel zu einem persönlichen „Welt-Bild“ passend zusammenzufügen können:

– Dass sie ihre Erlebnisse in ein je persönliches Weltverständnis und Menschenbild einordnen und sie zu seinem eigenen Selbstverständnis in Beziehung setzen können,

– dass sie ihr Welt- und Selbstverständnis vor sich selbst als eigene und persönliche „Innenschau der Außenwelt“ darstellen können,

– und dass sie dann, in einem Akt schöpferischer Bewältigung, dieses Welt- und Selbstverständnis als Sinnzusammenhang zu deuten vermögen.

Das kann nur der Mensch, kein Tier, auch der intelligenteste Affe nicht. Ja, diese „Innenschau der Außenwelt“ ist sogar eine wesentlicher Faktor bei der Dynamik der menschlichen  „Welt-bewusst-Werdung“.

Dieses „Weltverinnerlichung“ ist allerdings kein statischer Bestand (also ein unveränderliches „Welt-Bild“), sondern ein sich ständig veränderndes Geschehen, das in Folge jeder neuen Erfahrung die Form und die Richtung seiner Daseinsinterpretation in mehr oder weniger bedeutsamen Teilbereichen immer wieder neu justieren muss. (Nach unserem heutigen Kenntnisstand können wir nicht mehr, wie die alten Ägypter, davon ausgehen, dass es abends dunkel wird, weil die Göttin Nut die Sonne fraß und das es morgens hell wird, weil sie die Sonne wieder neu gebar).

Und: unsere Weltverinnerlichung beschreibt keinen Zustand, sondern eine Geschichte: So und so ist das geworden, was ich jetzt wahrnehme und so und so wird es (wahrscheinlich) weitergehen. Das Besondere an der „Welt-Sicht“ der Menschen ist, dass die das Gegenwärtige als etwas in der Vergangenheit Gewordenes erkennen können und als etwas, das sich in die Zukunft weiterentwickelt und dass sie dieses Erkennen in eine zusammenhängende „Sinn-Geschichte“ einzuordnen vermögen (siehe den Beitrag 1-10-3 „Sinn-Bewusstsein“). Und das kann dann bei dem Einen ein Welt- und Selbstverständnis von großer Weite, Vielfalt, Differenzierung, Farbigkeit, Beweglichkeit und tiefbegründeter Ethik beinhalten, bei einem andern eine begrenzte und schlichte Weltsicht mit einem sehr starren Handlungsrahmen.

3 Welterkenntnis

Unser „Verstehen“ der Welt speist sich aber noch aus einer anderen Quelle: Aus Genauem Beobachten (später auch mit Instrumenten) und bewusstem Forschen (später auch mit Experimenten). So kann aus anfänglicher Welt-Wahrnehmung und zunehmendem Welt-Verständnis eine wissenschaftlich gesicherte Welt-Erkenntnis werden, wobei ja auch wissenschaftliche Erkenntnisse immer nur so lange „gesichert“ sind, bis sie von neueren, weiterführenden Erkenntnissen überholt werden. (Freilich geht es hier nicht um eine „Erkenntnistheoretische Abhandlung“ sondern nur um die Markierung von „wissenschaftlicher Erkenntnis“ als ein Teil des „Weltverstehens“ der Menschheit).

So entsteht eine aufeinander aufbauende Stufenfolge der „Weltverinnerlichung“: Wahrnehmung – Erfahrung – Verständnis – Erkenntnis. Solche (wissenschaftliche) Erkenntnis beinhaltet Ergebnisse aus den verschiedenen Bereichen wissenschaftlichen Arbeitens: Naturwissenschaften, Humanwissenschaften, Sozialwissenschaften … und verbindet diese schon seit Jahrtausenden, aber heute mehr denn, je zu einer „Welterkenntnis“ der Menschheit.

Und: Jeder und jede Einzelne verbindet die Ergebnisse des eigenen Wahrnehmens, Erfahrens, Verstehens, Erkennnens (innerhalb des ganz persönlichen Erfahrungs- und Verstehens-Horizonts) zu einem sehr persönlich gefärbten „Innenbild der Außenwelt“.

Freilich sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht das einzige Deutungs-System und nicht der einzige Bedeutungs-Zusammenhang in denen „Welterkenntnis“ wächst und wirkt.  Da spielen auch sehr persönliche Ansichten, Einsichten und Verstehens-Weisen eine Rolle und ebenso auch kulturell gewachsene Traditionen, Verstehens- und Verhaltensmuster … Die bilden zusammen mit den Erkenntnissen der Wissenschaften das „Weltwissen und Weltverständnis der Menschheit“. Und das ist eine ganz wesentliche Voraussetzung für entstehendes und sich entfaltendes „Welt-Bewusstsein“.

4 Weltbewusstsein

Welt-Wahrnehmung, Welt-Verständnis und Welt-Erkenntnis können allein noch kein Welt-Bewusstsein begründen. Es fehlt dazu noch das bewusste Streben nach einer integrierenden Zusammenschau, in der wir selbst als Betroffene und Verantwortliche mitgemeint sind. Mit anderen Worten: Es fehlt noch eine persönliche und gemeinschaftliche Welt-Reflexion. Ich will das an einigen Beispielen verdeutlichen.

4.1 Die Welt als Ganzes

Als Alexander von Humboldt 1799 zu seiner Forschungs-Reise nach Süd-, Mittel- und Nordamerika aufbrach, konnte er noch nicht ahnen, dass er damit ein völlig neues Kapitel in der Geschichte der Welt-Erforschung und des wissenschaftlich begründeten Welt-Verstehens der Menschheit begann.

Sein unermüdlicher und analytischer Forscher-Geist hatte weiteste Dimensionen: Biologie und Geologie, Klima-Zonen und Lebensräume in den Höhen der Berge und in den Weiten der Kontinente, Landwirtschaft und Bergbau und ihr Einfluss auf Landschaft und Leben, Völker und Kulturen, politische und soziale Fragen und ihr Einfluss auf die Natur…

Zum ersten Mal hatte ein Wissenschaftler aus wissenschaftlichem Interesse die wahrnehmbare und erforschbare Welt als ein ganzes integriertes System erfasst, in dem alles mit allem in Verbindung steht und in dem alles von allem abhängig ist. So eine Zusammenschau der Welterkenntnisse, die alle bis dahin getrennten wissenschaftlichen Disziplinen zueinander in Beziehung setzte war eine gewaltige Leistung menschlichen Denkens. Bis dahin hatten nur die Religionen der Menschheit Vorstellungen von einer „Einheit allen Seins“ entwickelt, (z. B. in den biblischen Aussagen von der Einheit der Schöpfung durch die Einheit des Schöpfers, der für seine Schöpfung eine Welt-Entstehung, eine Welt-Entwicklung und ein Welt-Ziel bestimmt hat). Humboldt hatte zum ersten Mal als Wissenschaftler(!) so etwas wie ein beginnendes Welt-Bewusstsein entwickelt.

4.2 Welt-Verantwortung

Mit dieser Sicht auf die Welt war Alexander von Humboldt seiner Zeit um mindestens zwei Jahrhunderte voraus. Erst jetzt, im 21. Jahrhundert, beginnt eine Mehrheit von Menschen (in manchen Ländern und manchmal widerwillig) zu verstehen, dass das Welt-Klima und die Welt-Gemeinschaft aller Lebensformen (einschließlich der Menschen) und der Welt-Frieden  (zwischen den „Rassen“ und „Klassen“, den Völkern, Kulturen und Religionen) eine Einheit bilden, von deren Entwicklung die Zukunft allen Lebens auf dieser Erde abhängt.

Erst jetzt beginnen Menschen etwas von der Weltbedeutung des eigenen Lebens und Handelns zu verstehen und von der „Verantwortungs-Gemeinschaft des Menschseins“, für die Erhaltung des Lebens und des Friedens auf unserem gefährdeten Globus: Mein eigener persönlicher Lebens-Stil in meiner eigenen kleinen Welt trägt dazu bei, wie es mit der Lebens- und Schicksals-Gemeinschaft auf unserem kleinen blauen Planeten in den Weiten des Weltalls weitergeht. Bis dahin gab es zwar einzelne Warner und Mahner, aber die wurden oft als Sonderlinge und Eiferer belächelt. Ein Welt-Bewusstsein der Menschen auf unserem Globus, das ein Verantwortungs-Bewusstsein für unseren Globus einschließt, ist im Entstehen, aber noch ist es sehr angefochten und brüchig, denn allzu viele meinen noch, sie müssten den Frieden brechen um (politische und wirtschaftliche) Machtkämpfe auszufechten.

4.3 Die Welt als Gabe und Aufgabe

Das in den Abschnitten „die Welt als Ganzes“ und „Welt-Verantwortung“ beschriebene „Welt-Bewusstsein“ (siehe oben) hat seine (historisch gewachsenen) Wurzeln in der biblischen „Welt-Offenbarung“: Das Universum und darin unsere Erde und alles Leben bilden im biblischen Welt-Bewusstsein eine als Ganzes Geschaffene und deshalb auch als Ganzes erforschbare und verstehbare Einheit. (Auch in anderen Religionen gibt es das Bestreben, die wahrnehmbare und gedeutete „Welt“ als Einheit zu verstehen, aber meist nicht als Gegenstand wissenschaftlichen Forschens und Erkennens). Nebenbei: Das Verbot (in der biblischen Schöpfungsgeschichte) vom „Baum der Erkenntnis zu essen“ bezieht sich eben nicht auf auf wissenschaftliche Erkenntnisse; siehe das Thema „Schöpfungsglaube und modernes Weltbild“ im Bereich 2 „Grundfragen des Glaubens“).

Die Erde und das Leben und dessen Fruchtbarkeit sind (im biblischen Verständnis) zunächst Gabe des Schöpfers (1.Mose 1, 27-29): Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht. Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise.

Schon bei der ersten Erwähnung ist diese Gabe auch mit einer Aufgabe verbunden: „Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“

Wie das „Herrschen“ zu verstehen ist, lesen wir einige Zeilen später (1. Mose 2, 15): Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. (Bebauen und bewahren, so sollte eigentlich alles „Herrschen“ von Menschen in der Natur aussehen)

Das, was oben mit „herrschen“ benannt wurde, bekommt nun die Form einer doppelten Aufgabe und Verantwortung: Ja, die Menschen sollen den fruchtbaren Boden der Erde bebauen, um ausreichende Nahrung für alle zu bekommen, aber sie sollen zugleich die Erde bewahren (vor Raubbau und Zerstörung). Das haben biblisch gläubige Menschen oft nicht, oder nur sehr egoistisch verstanden: Bebauen und bewahren, ja, solange und soweit das mir (oder unserer Gemeinschaft) nützt. Erst in unserer Gegenwart, jetzt, im 21. Jahrhundert beginnen wir zu verstehen, wie es eigentlich gemeint war: Bebauen und bewahren für uns als Gemeinschaft aller Menschen und allen Lebens.

So entstand aus Welt-Wahrnehmung, Welt-Verständnis und Welt-Erkenntnis ein (persönliches und gemeinsames) Welt-Bewusstsein der Menschen, das auch eine (persönliche und gemeinsame) Welt-Verantwortung enthält.

Zu dem muss aber zwingend noch ein je eigenes (und dann auch gemeinsames) Selbst-Bewusstsein hinzukommen, um ein integriertes Bewusstsein des Menschseins zu entwickeln (siehe den folgenden Beitrag „Selbst-Bewusstsein“).

Alle Beiträge zum Thema "Bewusst sein"


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert