Wieder gehen wir (wie schon im ersten Beitrag „Welt-Bewusstsein“) in der gleichen Stufenfolge vor: Selbst-Wahrnehmung > Selbst-Verständnis > Selbst-Erkenntnis > Selbst-Bewusstsein.
1 Selbst-Wahrnehmung,
„Wer bin ich?“ Diese Frage war nie leicht zu beantworten. Jetzt, im 21. Jahrhundert, ist es sogar schwer geworden, sie zu stellen. „So etwas wie ein Ich gibt es gar nicht“, behaupten manche und verweisen auf Ergebnisse von Studien, die belegen sollen, dass auch alle geistigen Leistungen von Menschen (also auch die Vorstellung von einem persönlichen, unverwechselbaren „Ich“) nur unbewusste biochemische Vorgänge in ihrem Gehirn sind: Determiniert (also zwangsläufig aus den vorangegangenen Ereignissen folgend) oder rein zufällig, aber immer ohne bewusste Steuerung und Verantwortung. Genau so, wie (nach dieser Vorstellung) das ganze Universum aus zufälligen Ereignissen entstand, ohne Sinn existiert und ohne Ziel sich weiterentwickelt, so sei auch die Existenz jedes einzelnen Menschen zufällig, sinn- und ziellos.
Solche Abwertung ichbewussten Menschseins hat Konjunktur: Viele sehen sich (getrieben von einer Mischung aus Zukunftsangst und Lust an einer von aller persönlichen Verantwortung befreienden Selbstverneinung), in der Rolle eines schlecht programmierten Datenverarbeitungs-Organismus, der auf Dauer keine Chance hat, mit den viel leistungsfähigeren selbstgeschaffenen Datenverarbeitungs-Maschinen Schritt zu halten. Und dann ist es eben völlig nutzlos, über ein „Ich“ und ein „Bewusstsein“ des Menschen nachzudenken, wenn künstliche Intelligenz uns sowieso demnächst das Denken abnimmt.
Trotzdem erlebt sich ein Mensch, wenn er eine differenzierte Selbstwahrnehmung zulässt, als etwas Eigenes, als ein „Ich-Selbst“, das sich seiner Existenz als einmaliges, unwiederholbares Individuum bewusst ist. Ist ein solches Ich-Bewusstsein wirklich nur Selbsttäuschung? Vielleicht doch nicht. Offensichtlich ist der Mensch das einzige Lebewesen, das „Ich“ sagen kann, wahrscheinlich das Einzige, das auch „Ich“ denken kann, das sich selbst als unverwechselbares Individuum empfinden und verstehen kann. Der Mensch ist, soweit wir das erkennen können, auch das einzige Lebewesen, das seine Umweltwahrnehmung in einer zusammenhängenden, die Einzelphänomene sinnvoll verknüpfenden Gesamtschau verstehen kann, in der er selbst eine eigene und besondere Rolle spielt.
Wobei wir wahrnehmen, dass sich in jedem Menschen eine biologische Identität (die durch die einmalige Struktur seiner Gene bestimmt wird) und eine geistige Identität (die im Laufe seines Lebens durch Erfahrungen und deren Verarbeitung aufgebaut und verändert wird) zu einer einmaligen Identität der Person verbinden. Dabei wird die biologische Identität wesentlich durch das biologische Erbe der Vorfahren, und die geistige Identität wesentlich durch das geistige Erbe der Kultur(en) bestimmt. (Davon wird noch zu reden sein, siehe den Abschnitt 4-2 „Individuelles und kollektives Bewusstsein“)
Fragen wir nach, wie ein solches Ich- oder Selbst-Bewusstsein entstanden sein könnte.
1.1 Das werdende ICH
Niemand kann heute sagen, wann und unter welchen Umständen zum ersten Mal ein Mensch sich selbst als Individuum wahrgenommen hat.
Vielleicht war es nach einem Regen, als ein Einzelner aus einer Sippe von Busch-Jägern sich umdrehte und die Abdrücke seiner Füße im feuchten Boden sah und ihn die überwältigende Einsicht durchfuhr (auch wenn er sie noch nicht in Worte fassen konnte): „Das war ich!“ Vielleicht lernte er schnell, seine Fußabdrücke von denen seiner Sippen-Genossen zu unterscheiden. So wurden sie ihm zum sichtbaren Bild dieser Ich-Wahrnehmung, die sich in seinem Denken zu bilden begann, lange bevor es eine Sprache gab und ein Wort, das ein „Ich-Bewusstsein“ hätte ausdrücken können. Diese Ich-Bewusstheit verstärkte sich vielleicht, als er, obwohl noch jung und unerfahren bei der Jagd, zum ersten Mal ein größeres Tier erlegte, und er über dem blutenden, noch lebenswarmen Körper des Tieres einen Triumphschrei ausstieß, der seinem Empfinden Ausdruck verlieh: „Ich, ich habe es besiegt!“ Vielleicht wurde sein Ich-Bewusstsein dadurch gefestigt, dass der Sippen-Häuptling ihn wenige Tage nach jenem ersten Jagderfolg vor der versammelten Sippe mit einer Lautfolge bezeichnete, die so ähnlich klang wie der Triumphschrei, den er über dem erlegten Tier ausgestoßen hatte. Seitdem „nannten“ ihn alle so.
Vielleicht hatte sich so ein Ich-Bewusstsein bei einem Mädchen schon in ihren ersten Lebensjahren angebahnt, als ihre Mutter ihr gegenüber den Laut, mit dem sie ihre Kinder zu sich rief, immer mit einer etwas anderen Tonlage, mit etwas anderer Stimmfärbung, mit einer ganz eigenen Betonung aussprach. Vielleicht hatte sie auch zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, dass ihre Geschwister alle eine eigene und je besondere Stimmfärbung hatten, an der sie die Rufenden erkennen konnte ohne hinzusehen und dass auch ihre eigene Stimme und Ausdrucksweise von den anderen erkannt wurde. Das könnte ihr Bewusstsein verstärkt haben, dass sie etwas Eigenes sei, unterscheidbar und unterschieden von allen anderen. Das könnte sich später verstärkt haben, als sie ihr erstes Kind gebar und sie als Mutter eines Kindes ein höheres Ansehen in der Sippe genoss. Eines Tages hat sie dann vielleicht ihre Hände mit Holzkohle geschwärzt und an der Stelle, wo in der Höhle ihr Schlafplatz war, die Felswand mit den Abdrücken ihrer Hände markiert.
Auf solche Weise und durch tausend andere kleine Hinweise könnte ein „Ich-Bewusstsein“ entstanden sein, das zunächst im Wesentlichen aus zwei Komponenten bestand:
- Ich hinterlasse Spuren meines Daseins in der Welt; ich bin der Urheber und Gestalter von Veränderungen.
- Ich werde von meinen nächsten Bezugspersonen als jemand wahrgenommen, der von anderen unterscheidbar ist, anders als alle anderen, und das bringen sie zum Ausdruck, indem sie mich mit einer eigenen, nur mir zugehörigen Lautfolge bezeichnen, mit meinem „Namen“.
Dieser Funke von Ich-Bewusstheit erlosch nicht mit dem Tod seiner ersten „Erleuchteten“. Schon hatten andere Mitglieder der Sippe ihn wahrgenommen und aufgenommen. Schon war die Vorstellung von einem unverwechselbaren „Ich-Selbst“ eingesät in den Nährboden menschlichen Denkens. Dort wuchs sie weiter durch die Jahrtausende bis in die Höhen von Philosophie und Religion. Das Bewusstsein von einem einmaligen, unverwechselbaren „Ich“ ist nicht nur ein individuelles Phänomen, sondern auch das Ergebnis einer Menschheitsgeschichte von Selbstwahrnehmung, Selbstverständnis, Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein. Und dieses wachsende Bewusst-Werden der eigenen Person umfasste Entwicklungen im Laufe eines individuellen Lebens ebenso, wie in der Menschheits-Geschichte.
Der sich selbst wahrnehmende Mensch erfasst immer mehr Teilaspekte der eigenen Person und er entdeckt sie (vielleicht in abgewandelter Form) daraufhin auch bei den Personen seiner Umgebung. Und umgekehrt entdeckt er manches, was er an den Personen seiner Umgebung wahrnimmt, (vielleicht in abgewandelter Form) auch bei sei sich selbst, so dass seine Ich-Wahrnehmung und Du-Wahrnehmung sich gegenseitig anregen und immer differenzierter und vielfarbiger werden.
1.2 Teilaspekte der Persönlichkeit
Im Folgenden werden Teilaspekte möglicher Selbst-Wahrnehmung und Fremd-Wahrnehmung im Überblick zusammengestellt, ohne sie detailliert zu beschreiben.
- a) körperlicher Aspekt
Die körperliche Erscheinung ist das Erste, was wir bei einer flüchtigen Begegnung von einem Menschen wahrnehmen. Sie ist auch der erste Aspekt, den wir an uns selbst wahrnehmen, vor allem dann, wenn da etwas nicht in Ordnung ist, wenn da etwas mangelt oder schmerzt. Alle anderen Aspekte, geistige, emotionale usw., müssen sich irgendwie im Körperlichen ausdrücken, damit sie von uns wahrgenommen werden können.
- körperliche Bedürfnisse (essen, trinken, schlafen, Nähe, Berührung, Sexualität …)
- körperliche Erscheinung (Aussehen, Gestalt, Bewegungsformen, Körpersprache, Stimme, Sprechweise, erotische Ausstrahlung und sexuelle Attraktivität …)
- körperliche Eigenschaften (Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit, Geschicklichkeit, Wahrnehmungsfähigkeit der Sinnesorgane, Alter, Behinderung, Krankheit …)
- körperliche Ausdrucksfähigkeit (in Bewegung, Mimik, Tanz, Musik, Sprache, darstellender und bildnerischer Kunst …)
- b) Geistiger Aspekt
Beim Menschen hat der geistige Aspekt (im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen) eine überragende Bedeutung. Unser Selbstverständnis und unsere Umweltwahrnehmung hängen weitgehend von ihm ab. Heute leben die meisten Menschen in einer Umwelt, die nicht mehr mit der Instinktausstattung der Urmenschen zu bewältigen ist, sondern in jeder Minute geistige Anstrengungen erfordert, um sich in ihr zurechtzufinden und angemessen zu handeln.
- Geistige Bedürfnisse (Kommunikation, geistige Anregungen und Herausforderungen …)
- geistige Wahrnehmungsfähigkeit (auffassen, erkennen, verstehen, erfassen von Situationen und Zusammenhängen, Sprachverständnis, …)
- geistige Verarbeitungsfähigkeit (Sachlogisches, schlussfolgerndes Denken, zusammenführen und verknüpfen verschiedener Fakten, Vorerfahrungen, Details usw. zu einem neuen sinnvollen Ganzen …)
- geistige Gestaltungsfähigkeit (kreative Ausdrucksfähigkeit sprachlicher, sachlicher, wissenschaftlicher, künstlerischer … Inhalte)
- c) emotionaler Aspekt
Wir können die Bedeutung der Emotionalität für die Prägung der Gesamtpersönlichkeit eines Menschen kaum überschätzen. Sie ist, ob wir das wollen und wahrnehmen oder nicht, in allen anderen Aspekten des Menschseins gegenwärtig und bestimmt die gefühlsmäßige Grundfärbung und den persönlichen Bedeutungsgehalt jeder Situation mit.
- emotionale Bedürfnisse (emotionale Zuwendung und Zuneigung und Zärtlichkeit…)
- emotionale Wahrnehmungsfähigkeit (emotionale Aufmerksamkeit, Empfindsamkeit, Ansprechbarkeit …)
- emotionale Zuwendungsfähigkeit(Fähigkeit, auf emotionaler Ebene Kontakte und Beziehungen aufzunehmen und emotionale Inhalte mitzuteilen …)
- emotionale Gestaltungsfähigkeit (Gestaltung emotional begründeter Ausdrucksformen, z. B. sozial angepasst, beherrscht, unterkühlt, intensiv, eruptiv …)
- d) sozialer Aspekt
Der Mensch ist kein Einzelwesen, er kann auf Dauer nur als Teil eines sozialen Beziehungsgefüges existieren. Und er kann sich auf Dauer nur in einem menschlichen Miteinander wohlfühlen, in dem er selbst eine als positiv empfundene Stellung einnimmt.
- soziale Bedürfnisse (Zugehörigkeit, Angenommen-sein, Anerkennung …)
- soziale Wahrnehmungsfähigkeit (Offenheit und Fähigkeit zur Wahrnehmung sozialer Beziehungen und Interaktionen)
- soziale Beziehungsfähigkeit (Bereitschaft und Fähigkeit zur Aufnahme und Ausbau von Beziehungen)
- soziale Gestaltungsfähigkeit (bewusste Gestaltung und Pflege sozialer Beziehungen und Lebensräume)
- e) kultureller Aspekt
Jeder Mensch ist in eine kulturelle Gesamtsituation und in eine kulturgeschichtliche Entwicklung hineingeboren. Diese prägen sein Weltverständnis und sein Menschenbild, sein Selbstverständnis und seine Persönlichkeit wesentlich mit.
- kulturelle Bedürfnisse (kulturelle Anregungen und eigene Betätigung z. B. in Musik, Tanz, Bild- und Figur-gestaltende Kunst, Architektur …)
- Kulturelle Offenheit (positive Wahrnehmung verschiedener kulturell geprägter Lebensformen und Entwicklungen bei eigener kultureller Beheimatung …)
- Kulturelle Beziehungsfähigkeit (Bereitschaft, sich auf Begegnungen mit anderen Kulturen einzulassen und sie als Bereicherung anzunehmen)
- Kulturelle Gestaltungsfähigkeit (Möglichkeit der eigenen kulturellen Identität Ausdruck zu verleihen und darin Impulse aus anderen Kulturen aufzunehmen)
- f) weltanschaulich-religiöser Aspekt
Die Bedeutung dieses Teilaspekts für die Gesamtpersönlichkeit eines Menschen wird normalerweise sträflich unterschätzt oder ganz vernachlässigt. Dennoch: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das die Erfahrungen seines eigenen Lebens und die Vorgänge in seiner Umwelt in einem als sinnvoll empfundenen Bedeutungszusammenhang stellen kann – und muss. Religion bzw. Weltanschauung sind nicht verzichtbare Zutaten, sondern notwendige Bestandteile des Menschseins (siehe das Thema „Weltreligionen und biblischer Glaube“).
- weltanschaulich-religiöse Bedürfnisse (weltanschaulich-religiöse Zugehörigkeit, weltanschaulich-religiöse Begründung des eigenen Lebens-Stils, religiöse Vergewisserung …
- religiös – weltanschauliche Ansprechbarkeit (Offenheit für existenzielle Fragestellungen und religiöse Anliegen und Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Grundfragen des Glaubens)
- religiös – weltanschaulicheBindungsfähigkeit (Bereitschaft zu dauerhafter Einbindung in eine Glaubens- und Gesinnungsgemeinschaft)
- ethische Entschiedenheit (Bereitschaft, ethische Entscheidungen auf der Grundlage von religiösen/weltanschaulichen Überzeugungen auch gegen Widerstände durchzuhalten)
Zu bedenken ist allerdings, dass die Persönlichkeit eines Menschen sich immer zwischen Kontinuität und Wandel bewegt. Sie darf niemals auf die jeweils gegenwärtige Erscheinungsweise oder auf einen bestimmten Stand der Entwicklung „festgenagelt“ werden, und doch ist und bleibt ein Mensch auch eine einmalige und unwiederholbare „Person“ mit einer werdenden und wachsenden Identität, die alle Wandlungen mitvollzieht.
Dazu gehört auch, dass Menschen vor allem dadurch sich selbst kennenlernen, dass sie sich im Spiegel der Reaktionen anderer Menschen auf die eigene Person wahrnehmen. Wie reagieren andere Menschen auf meine Gegenwart, auf mein Verhalten, Reden und Tun? Das prägt meine Selbst-Wahrnehmung mehr als vieles andere.
1.3 Bedeutung einzelner Aspekte für die Gesamtpersönlichkeit
Alle die oben genannten Aspekte der Persönlichkeit können bei einem Menschen mehr oder weniger stark ausgeprägt und für die Person mehr oder weniger bestimmend sein. Es kommt ja z. B. in einer Gruppe von Jungen auf dem Schulpausehof nicht nur darauf an, dass einer von ihnen über eine bestimmte Muskelkraft verfügt (oder eine überzeugende Redegabe oder Führungsstärke usw.) sondern auch, wie weit er sein Selbstbewusstsein und seine soziale Stellung von diesen Eigenschaften her bestimmt sein lässt. Es können auch starke Begabungen ungenutzt bleiben und brachliegen, sodass sie für das Erscheinungsbild und Selbstverständnis eines Menschen fast ohne Auswirkung bleiben. So kann die Bedeutung der einzelnen Teilaspekte für die Ausprägung der Gesamtpersönlichkeit bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich gewichtet sein durch die jeweilige Intensität, Motivation und Verantwortung, mit der die einzelne Aspekte zum Tragen kommen.
- Intensität (Ausmaß und Schwerpunkte einzelner Eigenschaften, Begabungen und Fähigkeiten innerhalb der Gesamtpersönlichkeit). Durch sie können einzelne Teilbereiche eine starke Betonung erfahren.
- Motivation (Inhalt und Stärke des Antriebs und des Einsatzes für ein Anliegen). Das Engagement, die Hingabe für ein bestimmtes Anliegen kann die Persönlichkeit eines Menschen stärker bestimmen als eine außerordentliche Begabung.
- Verantwortung (Einsatz für ethische Maximen und ihre weltanschaulich – religiösen Begründungen). Die Entschiedenheit für eigene Standpunkte, die Offenheit für die Überzeugungen anderer und die Selbstverpflichtung, sich im Leben, Reden und Handeln an bestimmte ethische Vorentscheidungen zu binden, bilden eine wesentliche Grundlage für die Ausprägung der Persönlichkeit und ist somit auch wesentlicher Aspekt der Selbstwahrnehmung und eines entstehenden Selbstbewusstseins.
2 Selbst-Verständnis
Selbstwahrnehmung (siehe oben) ist auch bei verschiedenen höher entwickelten Tieren möglich, aber nur Menschen können alle ihre Selbstwahrnehmungen so zusammenführen und zueinander in Beziehung setzen, sie so deuten und bewerten, dass daraus ein zusammenhängendes und integrierendes Selbst-Verständnis werden kann.
Nehmen wir dafür ein einfaches Beispiel: Stellen wir uns einen jungen Mann vor mit einer gegenwärtig weitgehend zufriedenen Welt-Wahrnehmung (es ist angenehm, so wie es ist) und einem positiven Welt-Verständnis (es ist gut, so wie es ist), Bewusstseinsinhalte, denen (zumindest im gegenwärtigen Augenblick) auch eine zufriedene Selbst-Wahrnehmung entspricht (mir geht es gut) und ein positives Selbst-Verständnis (ich bin jemand, den man mag). Diese Harmonie zwischen Welt-Wahrnehmung und Selbst-Wahrnehmung erfüllt ihn mit einem Gefühl wohliger Zufriedenheit. Da sieht er eine junge Frau, die erotisch anziehend auf ihn wirkt. Er geht auf sie zu und versucht, ein harmlos-nettes Gespräch zu beginnen. Sie aber weist ihn kühl zurück und lässt ihn stehen. Nun entsteht in seinem Selbst-Bewusstsein ein Spannungszustand zwischen seinem Selbst-Verständnis (ich bin jemand, den man mag) und der aktuellen Umwelterfahrung (ich werde zurückgewiesen). Diese Spannungszustand zwischen dem Selbst-Verständnis und der aktuellen Erfahrung ruft ein Gefühl von Enttäuschung und Verunsicherung hervor. Darauf hin aktiviert und verändert er, um diese Spannung zu verringern, sein Welt-Verständnis (siehe oben: es ist gut so wie es ist) und deutet die Situation um: „Vielleicht hatte sie heute einfach einen schlechten Tag oder sie hat gerade etwas erfahren, worüber sie sich sehr geärgert hat und ich hab das abgekriegt. Na, vielleicht ein andermal“).
Spannungszustände zwischen den verschiedenen Teilen des eigenen Selbst- und Weltverständnisses drücken sich für die betroffenen Menschen oft in Gefühlen aus: Enttäuschung im Beispiel des jungen Mannes (siehe oben) oder auch ein Glücksgefühl, in einem anderen Fall, wo er vielleicht gar nicht mit einer positiven Reaktion gerechnet hatte, die unbekannte junge Frau ihm aber deutlich zu verstehen gibt, dass sie ihn auch sehr sympathisch findet.
Ich möchte so einen Spannungszustand zwischen verschiedenen Teilen des Selbst- und Weltverständnisses eines Menschen noch in einem konkret-realen Beispiel mit ganz anderem Kontext verdeutlichen: Ende Juli 1939: Dietrich Bonhoeffer ist in Amerika. Zum zweiten Mal. Diesmal aber in einer ganz anderen Situation: Hitlers Politik läuft immer deutlicher auf einen Krieg zu (der dann 2 Monate später, im September 1939, tatsächlich beginnt). Bonhoeffer hat sich in Deutschland sehr für die „Bekennende Kirche“ eingesetzt, war insgeheim auch im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv gewesen. Nun bekommt er das Angebot für Lehraufträge an theologischen Ausbildungsstätten in den USA und Freunde, die ihn in großer Gefahr sehen, drängen ihn zu diesem Schritt. Als er den nahen Einberufungsbescheid für Hitlers „Wehrmacht“ befürchten muss, nimmt er das Angebot an, nach Amerika auszuweichen. Aber Bonhoeffer bleibt nur wenige Wochen, dann fährt er zurück nach Deutschland. Dort wird er später verhaftet, jahrelang eingesperrt und in den letzten Kriegstagen im KZ Flossenbürg hingerichtet. In einem Brief an einen Freund erläutert er (noch in Amerika) seine Gründe für die Rückkehr nach Deutschland (zitiert nach Eric Metaxas „Bonhoeffer“):
Während ich hier (…) sitze, habe ich Zeit gehabt, über meine Lage und die Lage meiner Nation im Gebet nachzudenken und Gottes Willen für mich zu klären. Ich bin jetzt überzeugt, dass mein Kommen nach Amerika ein Fehler war. Diese schwierige Epoche unserer nationalen Geschichte muss ich bei den Christenmenschen Deutschlands durchleben. Ich habe kein Recht, an der Wiederherstellung christlichen Lebens in Deutschland nach dem Kriege mitzuwirken, wenn ich nicht die Prüfungen dieser Zeit mit meinem Volk teile. Meine (Glaubens-) Brüder in der Bekenntnissynode wünschten, dass ich ging. Vielleicht hatten sie recht, mich dazu zu drängen, aber von mir war es falsch, fortzugehen. Eine derartige Entscheidung muss jeder Mensch für sich selbst treffen…
Hier ringt ein Mensch um die Treue zu seinem Selbst-Verständnis in der Beziehung zu seinem aktuellen Welt-Verständnis (also um die Gültigkeit und Beständigkeit seines Welt- und Selbstbewusstseins). Sein Welt-Verständnis rät ihm dringend, in den USA zu bleiben, die Lage ist, objektiv gesehen, lebensgefährlich für ihn. Aber sein Selbst-Verständnis ruft ihn nach Deutschland zurück. Er sieht sich in der Mitverantwortung für das, was jetzt in Deutschland geschieht, und wie es nach einem möglichen Krieg weitergehen würde. Das war nicht nur eine Sachentscheidung, die man nüchtern abwägend treffen könnte, sondern auch eine Wertentscheidung von hoher persönlicher Bedeutung. Die Entscheidung, in den USA zu bleiben, hätte ihm wahrscheinlich das Leben erhalten, aber sie hätte ihn gezwungen, ein „Weltverständnis“ zu akzeptieren, das zwar gut begründet wäre (es ist besser, wenn ich bleibe, in Deutschland ist es jetzt zu gefährlich für mich), das aber im Widerspruch stünde zu seinem „Selbstverständnis“ (in Deutschland werde ich jetzt gebraucht und ich will so handeln, wie ich es für richtig halte, auch wenn es gefährlich wird). Der Erhalt der Stimmigkeit zwischen seinem Welt-Verständnis und seinem Selbst-Verständnis war ihm wichtiger als der Erhalt eines ungefährdeten Lebens. (Freilich spielten da auch noch andere Aspekte, z. B., siehe oben im Brief, seine Gottesbeziehung eine mitentscheidende Rolle).
In jedem Falle aber ist unsere doppelte Weltverinnerlichung aus Weltverständnis und Selbstverständnis das Steuerungselement für unsere Entscheidungen. In welcher Weise diese Steuerung funktioniert, werden wir noch sehen.
3 Selbsterkenntnis
„Erkenntnis“ ist hier, wie schon oben im Beitrag „Welt-Erkenntnis“, im Sinne von „wissenschaftlicher Erkenntnis“ gemeint. Dieser Aspekt kann hier nur genannt werden, ohne ihn auszuführen. Wissenschaftler haben wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen, verarbeitet, systematisiert … über den Menschen und das Menschsein (anthropologisch, biologisch, neurologisch, psychologisch, psychiatrisch, soziologisch, theologisch …) und solche Erkenntnisse fließen (soweit sie dem Einzelnen zugänglich und verständlich sind) selbstverständlich auch in das eigene Selbstverständnis ein und werden schließlich auch Teil des eigenen Selbstbewusstseins (wobei, z. B. im Bereich Psychologie oft massenhaft verbreitete pseudowissenschaftliche Scheinwahrheiten manchmal eine größere Rolle spielen als die echten Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung). Trotzdem: Für unser Selbst-Bewusstsein ist auch wissenschaftliche Erkenntnis eine bedeutender Teilaspekt.
4 Selbstbewusstsein
Selbstwahrnehmung, Selbstverständnis, und Selbsterkenntnis können sich unter einer bestimmten Voraussetzung zur Einheit und Ganzheit eines jeweils aktuellen Selbst–Bewusstseins verbinden. Die Voraussetzung, die dafür notwendig ist, nennen wir Selbst-Reflexion.
Ein „Selbst-Bewusstsein“ ist eine seltsam schillernde Doppel-Erscheinung: Einerseits fügt sie die Inhalte der eigenen Selbstwahrnehmung, des eigenen Selbstverständnisses, und der eigenen Selbsterkenntnis zur Einheit des „Ich“ zusammen, andererseits tritt es eben diesem eigenen „Ich“ in einer gewissen Distanz gegenüber und macht es zum Gegenstand von (wohlwollender oder kritischer) Selbstbetrachtung, als wäre dieses „Ich“ ein fremdes Wesen.
Dazu kommt noch, dass die „Einheit des Ich“ als sich selbst reflektierendes Ich-Bewusstsein auch noch alle Inhalte des eigenen Welt-Bewusstseins (siehe Beitrag 1) in die Ganzheit seines Bewusstseins integrieren muss.
Und wozu das Ganze, wozu dieser riesige Aufwand? Lebt es sich nicht unbewusst und unbelastet von solchen komplizierten Überlegungen viel leichter, einfacher und freier? Zwei Gründe sprechen dagegen. Den einen will ich hier kurz ansprechen, der andere wird im 3. Beitrag „Sinn-Bewusstsein“ eine wichtige Rolle spielen.
Zum ersten Grund: Was wäre denn die Folge einer Desintegration der Person statt der Integration dieser Person in der Einheit und Ganzheit seines Selbst- und Welt-Bewusstseins? Wir kennen solche Folgen aus der Psychiatrie: Schizophrenie, manisch-depressive Psychosen, Borderline-Persönlichkeits-Störungen … Der Mensch ist ein (im Vergleich zu anderen Lebewesen) ungeheuer komplexes Wesen und durch diese Komplexität in seinem Wesen ist er (im Vergleich zu anderen Lebewesen) extrem störanfällig. Die Gefahr der „Desintegration der Person“ ist der Preis für die fast unbegrenzt erscheinenden geistigen und seelischen Potenzen des Menschseins. Die grandiose Vielfalt und der schier unfassbare Reichtum aller Inhalte des Selbst- und Weltbewusstseins eines Menschen kann nur dann in der Einheit einer Person zusammenfasst bleiben, wenn alle diese Inhalte von einem (immer gefährdeten, aber doch im ganzen gelingenden) Prozess der „Bewusst-Werdung des Ich“ in seinem je aktuellen „Bewusstsein“ zusammengehalten wird. Die gelingende „Selbst-Bewusst-Werdung“ und das einigermaßen gesicherte und stabile „Selbst-Bewusst-Sein“ eines Menschen ist kein Luxus-Beiwerk, auf das man auch verzichten könnte, sondern existenziell notwendiges inneres geistiges Organisations-Gerüst für den Erhalt der Einheit seiner Person.
Das „innere Ich“ ist eben nicht nur ein identisches Abbild der äußeren Wirklichkeit, sondern auch ein „Kunst-Werk“ aus Selbst-Erfahrung und deren Bewertung, aus Kreativität und Gestaltungskraft, aus Sehnsucht und Hoffnung, manchmal auch aus Selbst-Täuschung und Selbst-Zweifel.
Das persönliche Selbst-Bewusstsein eines Menschen besteht aus seinem persönlichen Selbst-Verständnis (also wie ein Mensch sich selbst erlebt und wie er das Erlebte versteht und wie er es in sein „Welt-Bewusstsein“ einordnet) und aus der Möglichkeit zur Selbst-Reflexion (also wie ein Mensch sein Selbst-Erleben sachlich und emotional „bedenkt“, es kritisch oder wohlwollend beobachtet, es zustimmend oder ablehnend bewertet). (Siehe dazu das Thema „Wer bin ich?“
4.1 Integriertes Welt-und Selbstbewusstsein
Unser persönliche Selbst-Bewusstsein entsteht parallel und in Wechselwirkung mit unserem persönlichen Welt-Bewusstsein.
Das persönliche Welt-Bewusstsein eines Menschen besteht aus dem persönlichen Welt-Verständnis (also wie ein Mensch seine Umwelt erlebt und wie er das Erlebte versteht) und seiner Möglichkeit zur Welt-Reflexion (also wie ein Mensch sein Welt-Erleben sachlich und emotional „bedenkt“, es kritisch oder wohlwollend beobachtet, es zustimmend oder ablehnend bewertet). Ebenso besteht das persönliche Selbst-Bewusstsein aus dem persönlichen Selbst-Verständnis und der Möglichkeit zur Selbst-Reflexion.
Das persönliche Welt-Verständnis bildet sich aus den eigenen Erfahrungen mit der eigenen Umwelt: mit dem Wahrnehmen von Gegenständen und Verhältnissen, dem Erkennen von Veränderungen und Abläufen, dem Verstehen von Zusammenhängen und Hintergründen, dem Verknüpfen von Ursachen und Wirkungen …, aber auch aus den Erfahrungen von Fülle und Mangel, Reichtum und Verlust, Gefahr und Bewahrung, Glück und Unglück …, auch aus Erfahrungen von Annahme und Ablehnung, Zugehörigkeit und Außenseiter-Situation, Gemeinschaft und Einsamkeit, Macht und Ohnmacht usw. und auch aus Erfahrungen gemeinsamen Wahrnehmens und Erlebens, Bedenkens und Erforschens, Bekennens und Vertrauens, des Austausches von Gedanken und Empfindungen, des miteinander Arbeitens und Feierns usw.
Unsere Welt-Reflexion beobachtet und wertet alle diese „Vorgänge im eigenen Erleben“ und stellt sie dem eigenen „Welt-Verständnis“ (also der eigenen Vorstellung, wie die Welt ist und wie sie sein sollte) gegenüber. Aus den Abständen und Dissonanzen zwischen dem eigenen „Welt-Erleben“ und dem eigenen „Welt-Verstehen“ ergeben sich mögliche Risse und Dissonanzen im eigenen „Welt-Verständnis“, die, wenn die Dissonanzen zu stark werden, zur Regression (zum „Rückzug aus der Welt“) oder auch zur Aggression (zum Angriff auf das Bestehende) führen können.
Das persönliche Selbst-Verständnis bildet sich aus dem Erleben der eigenen Person, mit ihren Stärken und Schwächen, Gefühlen und Wahrnehmungen, Fähigkeiten und Begrenztheiten, mit ihrem Agieren und Reagieren, Lust- und Schmerzempfinden usw. und aus dem Erleben der eigenen Geistes-Gegenwart, mit ihrem Denken und Wissen, Erinnern und Vergessen, Glauben und Hoffen, mit ihren Klarheiten und Verwirrungen, Freuden und Depressionen, Überzeugungen und Fragen, Unsicherheiten und Gewissheiten, Ängsten und Ermutigungen usw. Und dieses Selbst-Verständnis bildet und verändert sich auch und ganz entscheidend durch die Begegnungen mit anderen Menschen und deren Reaktionen auf die eigene Person.
Die Selbst-Reflexion beobachtet und wertet alle diese Vorgänge im eigenen Erleben und stellt sie dem eigenen „Selbst-Verständnis“ (d. h. der Vorstellung, wie man selbst ist und sein möchte oder sein sollte) gegenüber. Menschen haben die Möglichkeit, aus ihrem Erleben nicht nur ein Verständnis der eigenen Person als „Ich in meiner Umwelt“ abzuleiten, sondern gleichzeitig auch ein normatives „Vor-Bild“ des „Menschen in seiner Umwelt“ zu entwickeln (also, wie ein Mensch, und in diesem Falle „ich“, sein und handeln sollte oder sein und handeln möchte). (Woher die normativen Inhalte der Selbstreflexion stammen, davon wird noch die Rede sein). Aus den Abständen und Dissonanzen zwischen dem eigenen „Selbst-Bild“ und dem eigenen „Selbst-Erleben“ in konkreten Situationen ergeben sich mögliche Risse und Dissonanzen (z. B. durch Versagens-Erlebnisse) in der Person, in ihrem Selbst-Bewusstsein und ihrer Außenwirkung.
Welt-Verständnis plus Welt-Reflexion (also Welt-Bewusstsein) und Selbst-Verständnis plus Selbst-Reflexion (also Selbst-Bewusstsein) bilden zusammen ein integriertes System. Das persönliche Welt-Bewusstsein und Selbst-Bewusstsein eines Menschen (zu dem dann noch das Sinn-Bewusstsein hinzukommen wird, siehe Beitrag 3). bilden miteinander und im Zusammenwirken das eine, diesen Menschen zur Einheit der Person integrierende „Bewusstsein“.
Und dieses „Bewusstsein“ wird ganz wesentlich getragen vom Gesamtsystem der sprachlichen Vergegenwärtigung und Bewältigung unserer Selbst- und Umweltwahrnehmung. In diesem Bewusstsein (und durch es) denkt, redet und handelt ein Mensch.
Wichtig für das Befinden der Person ist dabei ein einigermaßen harmonischer Zusammenklang aller Teile des eigenen Bewusstseins. Das System des „Bewusstseins“ ist darauf angewiesen, in einem möglichst durchgängigen Zustand der Harmonie zu bleiben (bzw. nach Dissonanzen immer wieder in einen Zustand geringerer Spannungen zurückzufinden). Unüberwindbare Spannungen zwischen verschiedenen Teilen dieses Systems können das ganze Systems des persönlichen „Bewusstseins“ (und das heißt, die ganze „Person“ eines Menschen) in einen dauerhaft instabilen Spannungszustand bringen.
4.2 Individuelles und kollektives Bewusstsein
Bei allem, was bis hierher über das „individuelle Bewusstsein“ gesagt wurde, müssen wir allerdings bedenken, dass unser individuelles Selbst- und Welt- und Sinn-Bewusstsein nur zu einem sehr geringen Teil aus dem eigenen Erleben, Erfahren und Denken kommt. Wir finden als Einzelne schon immer ein kollektives Selbstverständnis, Weltverständnis und Sinn-Verständnis vor, von dem unser persönliches Verstehen bewusst oder unbewusst umgeben ist, so dass es in ihm lebt, wie unser Körper in der Luft lebt, die wir atmen oder wie der Fisch im Wasser. Und dieses kollektive Selbst-, Welt- und Sinn-Verständnis mit ihren Erkenntnissen und ihren Wissensbeständen, ihren Sprachmustern und ihrer Sprachlogik, ihren Gewohnheiten und Handlungsmustern, ihren Kommunikationsweisen und Umgangsformen, ihren religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen und deren Sinn-begründenden Narrativen …, hat eine Entstehungsgeschichte von Jahrtausenden, mit unterschiedlichen Entwicklungen und Schwerpunkten in verschiedenen Kulturen. Und auch diese kollektiven Bewusstseinsinhalte bilden ein integriertes Ganzes, aus dem das Denken und Wollen, Entscheiden und Handeln der Einzelnen und der Gemeinschaften ihre Impulse, Richtung und Energien beziehen.
Dabei ergibt sich eine gegenseitige Abhängigkeit: Das kollektive Bewusstsein einer Vielzahl von Menschen (in einem gemeinsamen Kultur-Raum und in einer bestimmten geschichtliche Epoche) setzt sich aus den Bewusstseinsinhalten ihrer Individuen zusammen: Es gibt kein vorgegebenes Allgemein-Bewusstsein außerhalb der Bewusstseinsinhalte der Einzelnen.
Und gleichzeitig beeinflusst aber (überaus stark und prägend) das kollektive Bewusstsein der Gemeinschaften mit allen seinen Inhalten und Bedeutungen rückwirkend auch die Selbstwahrnehmung und das Selbstverständnis, die Umweltwahrnehmung und das Weltverständnis, die Sinn-Fragen und das Sinn-Verständnis jedes Einzelnen und bestimmt auch dessen Verhalten, Entscheiden und Handeln in hohem Maße.
Individuelles und kollektives Bewusstsein entwickeln sich immer gleichzeitig und in gegenseitiger Abhängigkeit. Es hat nie ein (noch so anfanghaft begrenztes) individuelles Bewusstsein gegeben, ohne dass gleichzeitig auch ein anfanghaftes kollektives Bewusstsein entstand und wirksam wurde. Erst im Austausch des Erlebens und Verstehens in der Kommunikations-Gemeinschaft kann sich auch ein eigenes Bewusstsein des Erlebten und Verstandenen bilden.
Wir können uns das anhand des folgenden Vergleichs vorstellen: Wenn wir uns die einzelnen Inhalte unseres persönlichen Bewusstseins als farbige Punkte auf einer durchsichtigen Folie markieren könnten, so würden wir dadurch einen visuellen Ausdruck unseres persönlichen Selbst-, Welt-, und Sinn-Bewusstseins erhalten. Und wenn wir nun auf einem Leuchttisch die Folien vieler Einzelner übereinanderlegen würden, so würden wir einen visuellen Ausdruck des kollektiven Selbst-, Welt-, und Sinn-Bewusstseins derjenigen Gemeinschaft erhalten, deren Folien auf dem Tisch liegen. Da würden manche Elemente, die nur bei wenigen vorhanden sind, blass und kaum erkennbar bleiben, und andere, die bei vielen markiert sind, würden markant und massiv in Erscheinung treten. Das Einzelbild (das individuelle Selbst-, Welt- und Sinn-Bewusstsein) ist Teil und Grundlage des Gesamtbildes (des kollektiven Bewusstseins), aber gleichzeitig besteht das Einzelbild wesentlich aus den Vorgaben des Gesamtbildes, die ja schon da waren, bevor ein Individuum selbst beginnen kann, sich ein eigenes Selbst-, Welt- und Sinn-Bewusstsein zu bilden). Das heißt: Unsere individuelle Bewusstseins-Folie liegt bei jedem immer obenauf und im Vordergrund, darunter aber und im Hintergrund bestimmen die „Folien“ des kollektiven Bewusstseins ganz überwiegend die Inhalte, Verstehensweisen und Motive unseres jeweils aktuellen persönlichen Bewusstseins.
Dieses gemeinsame kollektive Bewusstsein ist (bei verschiedenen Menschen mehr oder weniger stark ausgeprägt) in allen Mitgliedern der Gemeinschaft gegenwärtig und wirkt sich bei allen so aus, dass ihre Verstehensweisen, Motive und Verhaltensweisen in allen Bereichen entscheidend davon geprägt sind, und zwar in Richtung auf einen Grundkonsens der Gemeinschaft. Ohne einen solchen Grundkonsens wären Gemeinschaften nicht lebensfähig. Dieser Grundkonsens enthält dann auch Antworten auf Fragen wie: „Was (also welche Gegebenheiten, Mächte, Entwicklungen …) bestimmt entscheidend meine eigene und unsere gemeinsame Wirklichkeit, was ist Wahrheit oder Lüge, was werten wir als richtig oder falsch, gut oder böse, was gilt bei uns als erlaubt oder verboten, wichtig oder unwichtig, wertvoll oder wertlos …?“ usw. Er enthält also auch einen gemeinsamen ethischen Grundkonsens. So, und nur so, können Gemeinschaften (von einer einzelnen Familie bis hin zu ganzen Völkern) entstehen, die über längere Zeit stabil bleiben können. Und wir merken, wie die gegenwärtigen Dissonanzen in den (freien) Gesellschaften diesen ethischen Grundkonsens immer mehr in Frage stellen.
Das Welt- und Selbst-Bewusstsein eines einzelnen Menschen enthält unter anderem auch die jeweils individuelle Ausformung (innerhalb einer kulturbedingten und zeitgeschichtlichen Gesamtsituation) des kollektiven ethischen Unterbewusstseins der Menschheit, das in jahrtausendelangen Gärungs- und Aneignungsprozessen in den Regelungen und Wertungen der Kulturen und Religionen der Menschheit entstanden ist. Und dieses „ethische Unterbewusstsein“ ist Teil der kollektiven „Weltverinnerlichung“ der Menschheit, ist Teil der Weltverständnisses und Selbstverständnisses der Völker und Kulturen, die in Jahrhunderten und Jahrtausenden gewachsen sind. Sie speist sich aus den Erfahrungen der Völker und Generationen, die in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Schwerpunkten die ethischen Grundsätze, Entscheidungen und Handlungen von Milliarden Menschen in verschiedenen Kulturen durch die Jahrtausende geprägt haben (siehe dazu das Thema „Weltreligionen und biblischer Glaube“).
Das, was wir unser „Gewissen“ nennen, ist, so betrachtet, eine Warnmeldung unseres persönlichen „Bewusstseins“ (in dem ja auch individuelle Anteile und Ausformungen dieses „ethischen Unterbewusstseins der Menschheit“ wirksam sind), die jede unsere Handlungsweisen und deren mögliche Folgen mit dem Wertesystem des eigenen Weltverständnisses und Selbstverständnisses vergleicht und da manchmal Dissonanzen findet („du meinst doch, dass Ehrlichkeit zwischen den Menschen, den Gruppen und Völkern sehr wichtig ist und du hältst dich selbst für einen ehrlichen Menschen, und nun willst du deinen Vorgesetzten anlügen, um bei den Gehaltsverhandlungen besser abzuschneiden?“). Dieses „Gewissen” konkretisiert sich immer wieder neu in der aktuellen Deutung der Erfahrungen innerhalb einer bestimmten Situation mit je besonderen weltanschaulichen und religiösen Begründungen.
Dabei müssen wir mit einbeziehen, dass da ja auch schon die „Folien“ aus früheren Generationen mit auf dem „Leuchttisch“ der Menschheitsgeschichte liegen, die aber allmählich verblassen, so dass sich die Gesamtprägung allmählich verändert. Das individuelle, ebenso wie das kollektive Bewusstsein sind veränderlich. Aber sie bauen sich immer auf dem Bisherigen auf (ob im Anschluss an das Frühere oder im Gegensatz dazu). Das jeweils aktuelle kollektive Bewusstsein ist immer das Ergebnis von Genese, Wachstum und Veränderung in Jahrtausenden innerhalb bestimmter Kulturen und darüber hinaus auch in der Menschheit als Ganzes.
Auch das „Gewissen“ eines Menschen (als kritischer und mit ethischen Maßstäben wertender persönlicher Anteil dessen kollektiven Bewusstseins) ist nicht vorgegeben, sondern hat eine Entstehungsgeschichte in verschiedenen Kulturen, innerhalb derer es auch Wandlungen durchlaufen hat (z. B. durch Anpassungen in der Begegnung mit anderen Kulturen mit anderen Bewusstseinsschwerpunkten).
Unser individuelles und kollektives Bewusstsein hat keine „von Natur aus“ vorgegebenen „Werte“, hat keine von den kultur-historischen Entwicklungen unabhängig entstandene „Ethik“ und kein vor-historisch gegebenes „Natur-Recht“ (siehe das Thema „Recht und Unrecht“). Trotzdem sind die mit „Werte“, „Ethik“ und „Recht“ angesprochenen Grundlagen jeder menschlichen Gemeinschaft nicht zufällig und willkürlich entstanden, sondern Teile unseres individuellen und kollektiven Bewusstseins.
Dabei ergibt sich aber ein großes und schwerwiegendes Problem: Wenn dieses individuelle und kollektive Bewusstsein seine normativen Inhalte und ethischen Grundsätze nur aus den eigenen Erfahrungen, Bedürfnissen und Empfindungen und von dem eigenen Selbst- und Weltverständnis ableitet, dann bekommen die unvermeidbar ein Gefälle in Richtung auf egoistische Anliegen, Wertungen und Ziele. Das kann gar nicht anders sein. Die Entstehungs-Geschichte des Lebens und in ihm des Menschseins hat in Zehntausenden von Jahren das Selbst- und Weltverständnis der Menschen anhand von evolutionären Vorgängen im „Kampf ums Dasein“ geschult: Jeder lebt davon, dass er Sieger bleibt in den Lebens- und Überlebenskämpfen der Natur. Wenn also die ethischen Prinzipien unseres Welt- und Selbst-Verständnisses nur davon bestimmt wären, so könnte das Menschsein niemals über die Prinzipien der Selbstbehauptung über „die Anderen“ hinauskommen. Und das würde im 21. Jahrhundert mit großer Wahrscheinlichkeit zur Selbstvernichtung der Menschheit führen.
Unser Bewusstsein bestimmt (weitgehend!) unser Handeln als Einzelne und Gemeinschaft. Wie wir uns selbst und unsere Welt verstehen, so handeln wir. Das ist ganz selbstverständlich so. Wir brauchen deshalb (um des Überlebens der Menschheit und des Lebens willen!) für die normativen Inhalte und ethischen Grundsätze unseres individuellen und kollektiven Bewusstseins noch andere Quellen als nur die Wertungen unseres eigenen Welt- und Selbstverständnisses (und das heißt auch: andere als die Wertungen unserer egoistischen Antriebe).
Wir werden im Beitrag 3 „Sinn-Bewusstsein“ noch genauer darauf eingehen.